Seit Jahrhunderten weckt erotische Literatur das Interesse der Leser. Der amerikanische Bestsellerroman „Shades of Grey“ ist nur das jüngste Beispiel. Mit einem Blick in sein Inneres beginnen wir eine kleine Sommerreihe über Buch-Verführer gestern und heute.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Stuttgart - Der Erotikversand Orion hat bereits passend zum Buch das Paket „Geheimes Verlangen“ ins Sortiment genommen. Für 19,95 Euro bekommt man „vier raffinierte Accessoires für Spielereien abseits des Alltäglichen“ – Handschellen mit Plüschbezügen, Liebeskugeln, Augenmaske und eine Peitsche aus Veloursleder. Denn es könnte sein, dass nun auch deutsche Frauen danach gelüstet, gefesselt und geknebelt zu werden, gepeitscht, geschlagen, gedemütigt, unterworfen, und, wie Christian Grey es oft und gern sagt, „gefickt“ zu werden, „hart“.

 

SM scheint derzeit ein beliebtes Hobby zu sein. Der Roman „Shades of Grey“ der britischen Autorin E. L. James kam gerade zur rechten Zeit. In Nordamerika hat sich das 600 Seiten dicke Buch bereits 15 Millionen Mal verkauft – und seither sollen Erotikhändler einen wahren Run auf „BDSM“-Artikel erleben – „Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism“ . Es gibt sogar schon Kurse, in denen das Quälen gelehrt wird.

Keine erotische Weltliteratur

Christian Grey weiß längst, wie man schlagen muss. Der Held des Romans „Shades of Grey“ hat ein gutes Dutzend „Subs“ verschlissen, devote Frauen, denen er keineswegs nur den Hintern blutig schlägt. Nun trifft er die 21-jährige Literaturstudentin Anastasia und genießt es zuzusehen, wie ihre „wunderschöne Alabasterhaut“ unter seinen Händen „heiß und rot wird“. Aber Grey will mehr: Er will Anas Leben vollständig kontrollieren, er bestimmt, was sie isst, was sie anzieht, wann sie schläft. Er benennt die Regeln, sie muss folgen. „Wird unsere. . . äh . . .Beziehung so laufen?“, fragt Ana einmal, „dass du mich herumkommandierst?“

„Shades of Grey“ hat enorme Diskussionen ausgelöst. Denn die Tatsache, dass sich vor allem Frauen auf das Buch stürzen und auch in Deutschland nach 500 000 ersten Exemplaren bereits nachgedruckt wird, wirft große, böse Fragen auf: Schaut so der Sex aus, den sich Frauen wünschen? Falls ja – was soll man aus feministischer Sicht dazu sagen? Ist die Unterwerfung ein Befreiungsschlag für die autonome weibliche Sexualität?

Eines ist sicher: „Shades of Grey“ lässt sich nicht in die Reihe der großen erotischen und pornografischen Weltliteratur einordnen, die von de Sades „Justine“ bis zu Anais Nins „Delta der Venus“ reicht. „Shades of Grey“ ist eher mittelmäßig geschrieben und hat Längen. Vor allem liefert es keine differenzierte Analyse der Gesellschaft oder der Sexualität unserer Zeit.

Warum zieht dieses Thema?

Warum aber dieser Boom? Weil Sex immer zieht. Weil SM eines der wenigen Tabus ist, das es in unserer sexualisierten Gesellschaft noch gibt. Und vor allem, weil „Shades of Grey“ letztlich ein Groschenroman ist, der die Geschichte von Aschenputtel und dem Prinzen auf sexuellem Terrain austrägt. Hier ist es die kleine Studentin, die vom großen Geschäftsmann auserkoren wird. Christian Grey ist jung, er ist reich, schön, begabt, ein Adonis mit, natürlich, Waschbrettbauch und „ganz langen Wimpern“. Er spielt „atemberaubend“ Klavier. Er hat eine Firma, ist Millionär, besitzt einen Hubschrauber und eine „eiförmige, tiefe Badewanne aus weißem Marmor“.

Ausgerechnet dieser Übermensch wählt Ana aus, das schusselige Mädchen von nebenan, das noch nie einen Freund und nie Lust hatte. Im Groschenroman müsste sie ihrem Retter Kinder schenken und bis ans Ende ihrer Tage den Haushalt führen. Bei Grey macht den die Haushälterin – und Ana hält eben den Hintern hin, damit Grey sie vermöbeln kann.

Aber gefällt es ihr? Ja und nein. Ana will definitiv nicht geschlagen werden, sie macht ihm zuliebe mit – und „meine innere Göttin legt einen Salsa aufs Parkett“. Sie sehnt sich danach, einfach nur zärtlichen Sex zu haben, kniet aber artig mit gesenktem Blick in seinem SM-Zimmer mit ochsenblutfarbener Chesterfield-Couch, Ketten, Handschellen, Matratze mit rotem Lederbezug und roten Satinkissen. „Ein Teil von mir würde am liebsten schreiend aus diesem Raum rennen“, denkt Ana, um dann doch bei den Peitschenhieben „in einem unglaublichen Orgasmus zu explodieren“.

Das Ärgerliche an „Shades of Grey“ ist, dass es so tut, als würde in jeder Frau eine „Sub“ wohnen und als sei Schmerz der wahre Garant für tiefste Lust. „Die Angst ist in deinem Kopf“, beschwört Grey die junge Frau, als müsse sie diesen ganzen unnötigen zivilisatorischen Ballast abwerfen. „Empfinden Sie tatsächlich so?“, fragt Grey. Oder glaubt sie, Schmerz zu empfinden, weil die Gesellschaft es so vorgibt? „Sieh zu, dass du deine Scheiße in den Griff kriegst, Grey,“ sagt Ana am Ende und verlässt ihn – das sei der Cliffhanger für den Folgeband, wie es höhnisch heißt. Für Alice Schwarzer ist das dagegen der Beweis, dass Ana selbst über ihre Sexualität entscheidet, weshalb Schwarzer dem Buch das feministische Plazet gegeben hat.

Ein braves Buch über ein Tabuthema

Aber eben das ist das Besondere an „Shades of Grey“, dass man es nach Belieben drehen, wenden und deuten kann, weil die Autorin sich nach allen Seiten absichert und kein stringentes Konzept verfolgt. Ana lehnt die Schläge ab und stimmt ihnen doch aus freiem Willen zu. James plädiert für die wahre, unverstellte Lust, aber dann kommandiert Grey doch wieder: „Du reagierst sehr intensiv. Aber du wirst lernen müssen, das zu beherrschen.“

Grey ist Anas Lehrmeister und legt in einem Vertrag fest, was das heißt: „Der Dom übernimmt die Verantwortung für das Wohlergehen und die angemessene Erziehung, Leitung und Disziplinierung der Sub.“ Ein Erziehungsroman, haben Kritiker geschrieben, wobei es eigentlich Ana sei, die Grey erziehe, der psychisch „total abgefuckt“ ist, weil er als Kind vernachlässigt wurde und als Jugendlicher der Freundin seiner Stiefmutter als Sklave dienen musste. Ana will ihn retten, den Teufel aus diesem schönen Gott austreiben. So landet James mit etwas Küchenpsychologie doch wieder bei einem uralten Mythos von der unschuldigen Frau, die das Monster rettet und ans Licht führt.

„Shades of Grey“ steckt voller Widersprüche, ist vor allem aber über weite Strecken langweilig. Denn es ist kein stimulierender Porno, sondern ein sehr braves Buch, wenn auch über ein Tabuthema. Es wird immer artig geduscht, Christian benutzt ordnungsgemäß Kondome und salbt die wunden Stellen seiner Ana zärtlich. James verzichtet auch ganz auf Fäkalsprache, bestenfalls hüpft Anas „innere Göttin“. Alles ist sauber und clean, teuer, edel und luxuriös. SM im Designer-Märchenschloss.

„Wenn du dich mir ganz hingibst, wird es noch viel besser“, sagt Grey – so dass einige aus dem Buch eine große Sehnsucht nach Vertrauen, Hingabe und absoluter Zweisamkeit herauslesen. Letztlich sagt aber am ehesten der Erfolg dieses mittelmäßigen Romans etwas über unsere Gesellschaft aus, in der die Menschen unter der enormen Erwartungshaltung zu stehen scheinen, dauerhaft ein spektakuläres Sexualleben führen zu müssen: Und so sucht man hilflos nach neuen Kicks – und hofft jetzt, dass Ana recht hat, wenn sie behauptet „noch nie habe ich etwas getan, das so aufregend und beängstigend zugleich war“.