Bei der ersten Volksversammlung haben rund 2500 Bürger mit dem Ministerpräsidenten diskutiert. Stuttgart 21 war das zentrale Thema.

Stuttgart - Ministerpräsident Winfried Kretschmann geht weiterhin davon aus, dass die Bahn entgegen ihrer Androhung am Montag die Bauarbeiten für Stuttgart 21 nicht wieder aufnehmen, sondern den Stresstest abwarten wird. Vor zahlreichen Projektbefürwortern und -gegnern, die am Mittwochabend zur ersten "Volksversammlung" auf den Marktplatz gekommen waren - 2500 laut Polizei, 3000 laut Veranstalter - , betonte er, dass die Schlichtung erst zu Ende sei, wenn der Stresstest gemacht und bewertet sei. Kretschmann: "Die Bahn setzt in ihrer Argumentation auf Verträge, aber alle haben sich auf die Schlichtung eingelassen, das hat eine bindende Wirkung." Kretschmann kündigte zudem an, dass Verkehrsminister Winfried Hermann am 22. Juni bei der nächsten Volksversammlung auf dem Marktplatz den Stresstest öffentlich erklären werde. "Wir machen Schluss mit der Geheimhaltungspolitik, da setzen wir ein Zeichen", sagte der Ministerpräsident unter starkem Beifall.

 

Zugleich machte er Projektgegnern, die ihn zur Klärung der Frage aufforderten, ob die Bahn bezüglich der Leistungsfähigkeit des neuen Tiefbahnhofs gelogen habe, aber keine Hoffnungen. "Das wird wahrscheinlich nie geklärt werden, ich gehöre einer Regierung an, die zur Hälfte für das Projekt und zur Hälfte dagegen ist, da können wir nicht noch Aktionen in die Vergangenheit machen", sagte Winfried Kretschmann und warb um Verständnis für den schwierigen Spagat beim Thema S21. "Die Alternative wäre aber eine schwarz-rote Regierung gewesen, dann würde S 21 auf jeden Fall gebaut."

Hohe Erwartungshaltung belastet ihn sehr

Das Bahnprojekt war das zentrale Thema bei der ersten Volksversammlung, mit der die von S-21-Protestveteran Gangolf Stocker ins Leben gerufene Initiative Leben in Stuttgart und die Anstifter um Peter Grohmann mehr Demokratie ermöglichen wollen. Aus dem S-21-Protest, der die politische Kultur verändert hat, soll nun unter dem Motto "wir reden mit" auf breiter Basis Gestaltungswille wachsen. Sowohl der Ministerpräsident wie auch die Veranstalter warben für eine offene, gewaltfreie Diskussionskultur. "Demokratie heißt Streit, und am Schluss entscheiden Mehrheiten", so Kretschmann.

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Der Ministerpräsident betonte, dass für ihn mehr Bürgerbeteiligung auch bedeute, dass man die Zivilgesellschaft in Entscheidungsprozessen gleichberechtigt in Stellung bringe. "Das Problem ist doch, dass die, die Geld und Netzwerke haben, stärker sind." Um neue Instrumente für eine wirksame Bürgerbeteiligung zu finden, brauche es aber Zeit. "Da benötigen wir eine Legislatur, um das zu verankern", sagte Kretschmann und warb um Geduld. Die hohe Erwartungshaltung vieler Menschen belaste ihn sehr. "Auch der Kretschmann kocht nur mit Wasser."

Kretschmann antwortete offen

Obwohl mit 5000 Teilnehmern gerechnet worden war, äußerte sich Stocker "sehr zufrieden". Auch Kretschmann, der in den 75 Minuten für den neuen, bürgernahen Regierungsstil warb, zeigte sich beeindruckt. 20 Bürger nutzten die Chance, über eines der vier Mikrofone auf dem Marktplatz im direkten Dialog mit dem Ministerpräsidenten Fragen zu stellen, zeitweise herrschte Montagsdemostimmung. Kretschmann antwortete offen und wich nur selten aus. Die Forderung nach einer Amnestie für in Strafverfahren verwickelte S-21-Gegner beschied er mit dem Hinweis, damit habe man sich bisher nicht beschäftigt, Amnestie sei aber "das äußerste Mittel".

Die Initiative will das Forum auf dem Marktplatz als demokratisches Beteiligungsinstrument etablieren. Alle paar Wochen sollen wie einst im alten Athen Themen zum öffentlichen Disput auf den Marktplatz getragen werden. Der SPD-Justizminister Rainer Stickelberger war als Politiker für die übernächste Volksversammlung angefragt, hat laut Gangolf Stocker aber mitgeteilt, dass er für einen Dialog nicht zur Verfügung stehe. Als Nächstes will man die Kultusministerin auf den Marktplatz bitten, weil das Thema Bildung vielen auf den Nägeln brenne.

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