Mit einem Nein bei der Reichstagsabstimmung zu den Kriegskrediten hätten die Sozialdemokraten im August 1914 Deutschlands Weg in den Krieg verhindern können. Doch der Antizarismus der Partei obsiegte.

Stuttgart - Ende Juli/Anfang August hatten es die deutschen Sozialdemokraten in der Hand, das Kaiserreich an einem Weg in den Krieg zu hindern. Ohne Zustimmung der SPD-Reichstagsfraktion zu den geforderten Kriegskrediten wäre es der deutschen Reichsleitung nicht möglich gewesen, die den Krieg auslösenden Entscheidungen umzusetzen. Der Krieg wäre schlichtweg nicht finanzierbar gewesen. Schon vor der Reichstagswahl von 1912 hatte Generalstabschef Helmuth von Moltke jr. gewarnt, wenn die SPD noch stärker werde, könne das Deutsche Reich keinen Krieg mehr führen.

 

Seit 1890 waren die Sozialdemokraten mit mehr als einer Million Mitgliedern die stärkste Partei im Lande, und nun stellten sie 1912 auch die stärkste Fraktion im Reichstag. Das eröffnete für den Fall eines Krieges unerwartete Möglichkeiten. Eigentlich war die SPD in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg keine konsequent pazifistische Partei. So hatte sie in ihrem Erfurter Programm von 1890 ausdrücklich eine „Erziehung zur Wehrfähigkeit“ postuliert. Aber die Abneigung gegen den preußischen Militärstaat überwog, was sich schon aus der Entstehungsgeschichte der Sozialdemokratie erklären lässt.

In den Vorkriegsjahren hatten die größte deutsche Partei immer wieder zu Demonstrationen und Kundgebungen gegen die Kriegsbegeisterung der nationalistischen Rechten aufgerufen – mit besonders starkem Echo im November 1912 während der Balkankrise. Zusammen mit den anderen Parteien der Zweiten Internationale in Basel brachte die SPD den gemeinsamen Friedenswillen des europäischen Proletariats zum Ausdruck. Irgendwelche Vorgaben oder gar Festlegungen, was die Arbeiterklasse zu tun hatte, wenn ein Krieg ausbrach, existierten jedoch nicht. Ob dergleichen nötig sei – darüber hatten schon die internationalen Sozialisten auf ihrem Kongress 1907 in Stuttgart gestritten. Der französische Sozialistenführer Jean Jaurès (der im Juli 1914 ermordet wurde), hatte eine Resolution eingebracht, die von den nationalen Parteien zur Verhinderung des Krieges neben parlamentarischen Interventionen auch den Massenstreik und sogar den politischen „Aufstand“ forderte. Der deutsche SPD-Vorsitzende August Bebel fand diesen Vorschlag „undiskutabel“ und lehnte ab.

Die SPD rief zu Antikriegsdemonstrationen auf

Als sieben Jahre nach dem Stuttgarter Treffen der Ernstfall eintrat, stand die sozialdemokratische Internationale ratlos da und wagte keine gemeinsame Entscheidung. Eine Antikriegs-Entscheidung auf nationaler Ebene wäre aber möglich gewesen – und danach sah es zunächst auch aus. Als im Juli 1914 in Europa die Kriegsgefahr wuchs, kam es in den meisten großen Städten Deutschlands zu Antikriegsdemonstrationen, zu denen die SPD aufgerufen hatte. Die größte fand mit mehr als hunderttausend Teilnehmern am 28. Juli im Treptower Park in Berlin statt. Wenige Wochen zuvor hatten sich ebenfalls in Berlin sozialdemokratische Frauen gegen „Militarismus“ und „Rüstungswahn“ ausgesprochen.

Am 4. August 1914 stimmte der Reichstag über die Kriegskredite ab. Der Antrag wurde einstimmig angenommen. Auch die sozialdemokratische Fraktion hatte unter Fraktionszwang geschlossen zugestimmt. Bei der Probeabstimmung am Vorabend hatte es noch 14 Gegenstimmen gegeben. Hätten Parteivorstand und Fraktionsführung auf die Stimmung reagiert, wie sie in den vielen Kundgebungen der SPD-Mitglieder zum Ausdruck kam, dann hätten sie ein Nein vorgeben müssen. Eine Tendenz dazu war zunächst erkennbar, aber die russische Generalmobilmachung vom 30. Juli 1914 ließ die Stimmung in der Fraktion umschlagen. Reichskanzler Bethmann-Hollweg hatte die SPD-Abgeordneten wissen lassen, dass das Reich, das ja nun wohl angegriffen werde, einen Abwehrkampf gegen das zaristische Russland führen müsse. Die SPD ließ die einmalige Chance, Deutschland aus einem Krieg herauszuhalten, entgleiten und reihte sich statt dessen in die vaterländisch-patriotische Front ein. Die Sozialdemokraten waren leidenschaftliche Gegner des Zaren, diese Abneigung zog sich verlässlich durch von Marx bis Bebel.

In den Augen der SPD war der russische Zar der Hort der europäischen Reaktion, der Feind von Freiheit und Fortschritt schlechthin. Dieser Antizarismus war es letztlich, der die Sozialdemokraten dazu bewegte, den Kriegskrediten zuzustimmen. Der SPD-Vorsitzende Hugo Haase erklärte im Reichstag: „In der Stunde der Gefahr lassen wir das Vaterland nicht im Stich.“ Heute gilt diese Zustimmung als die dunkelste Stunde in der Geschichte der SPD.