In wenigen Tagen veröffentlicht die Stuttgarter Band Eau Rouge ihr betörendes Debüt „Nocturnal Rapture“. Das Stadtkind haben die melancholischen Dreampopper vorab zum Frühstück eingeladen.

Stuttgart - Stuttgart, deine Hinterhöfe. Ruhige, lauschige Enklaven, in denen die nahe Straße verstummt, in denen Blumen prächtig gedeihen, Bienen summen und eine geradezu sonntägliche Ruhe über allem liegt. In der Lerchenstraße, einen Steinwurf vom Bäcker Bosch entfernt, wohnt Jonas Treuter in einer kruschteligen WG. Der Eau-Rouge-Sänger winkt aus dem Fenster im zweiten Stock, bittet direkt in den Garten. Dort wartet schon sein Bandkollege Bo Zillmann, frisch aus dem Italien-Urlaub zurück, mit reichlich Frühstückszubehör, kurz darauf kommt Jonas dazu, in der Hand eine große Tüte vom, natürlich, Bäcker Bosch. Seit eineinhalb Jahren wohnt Jonas hier im Westen, er kennt die Stoßzeiten des nervig beliebten Bäckers ganz genau.

 

 

Zu dritt durch die Nacht

 

Kurz wird in der Morgensonne über Backwaren gefachsimpelt, über das schlechte Wetter auf dem Southside und das perfekte Wetter auf dem Melt philosophiert, recht schnell aber das Thema gewechselt. Es soll schließlich nicht von Brezeln, Bühnen oder Bier die Rede sein. Sondern von Eau Rouge. Und da gibt es wie immer viel zu erzählen, also wird kurzerhand Schlagzeuger Magnus Frey per Handy zugeschaltet. Kommenden Freitag erscheint mit „Nocturnal Raptures“ das erste Studioalbum des Trios, der schwärmerische und wunderbar fiebrige Höhepunkt einer an Höhepunkten nicht gerade armen Bandgeschichte, die im Gegensatz zu Die Nerven, Human Abfall, Karies und Konsorten durchaus das Zeug zur Stadiongröße hat, ohne in poppige Anbiederei zu verfallen.

 

Anfang 2013 finden Jonas und Bo nach ersten Gehversuchen in Schwäbisch Gmünder Bands zusammen, binnen kürzester Zeit entsteht ein majestätischer Sound voller bittersüßer Melancholie, erhabener Größe und schillernder Verheißung. Beide spielen Gitarre, beide singen, Jonas bedient zusätzlich die Synthesizer. Die Vergleiche mit The XX ärgern die junge Band, verstummen entsprechend schnell, weil sich die Stuttgarter schneller weiterentwickeln, als man „Newcomer-Hoffnung“ sagen kann. Indietronic? Dreampop? Jein. Epischer, entrückter, größer, mit dem Einstieg von Magnus, ein ehemaliger Schulkamerad und Bandkollege von Bo, gleichzeitig dynamischer, treibender, organischer. Das fehlende Puzzleteil war gefunden, in Stuttgarts Mitte reifte ein nächtlicher Sound zwischen Eros und Thanatos, der auf den ersten Blick so gar nicht in die gegenwärtige Musikkultur der Stadt passte. Und deswegen verdammt aufregend war. „Wir merkten schon bei der ersten Probe, dass diese Dreierbesetzung perfekt ist“, blickt Jonas zurück. Bo nimmt einen Schluck Kaffee und nickt: „Heute wäre es nahezu unmöglich, ein viertes Mitglied aufzunehmen, da passt kein Blatt mehr dazwischen“. Das Trio als Heilsbringer, ein Konzept, das auch Eau Rouge beflügelt, stärkt.

 

Off-Locations und 3D-Experimente

 

Für ein erstes Album ließen sich die drei aber bewusst Zeit, ließen ihr Baby in Ruhe wachsen, laufen lernen, sprechen und zahnen. Untätig waren sie dennoch nicht. Sehr schnell spielten sie Konzerte außerhalb Stuttgarts, eröffneten 2015 das erste und eventuell einzige Stuttgart Festival, reisten dieses Jahr gar zum SXSW-Festival in Texas, dem wichtigsten Showcase-Festival der Welt, und wurden sogar mal bei „Germany's next Topmodel“ eingespielt. Als besondere Keimzelle für alles Künftige erwies sich das Azenbergareal, wo die Band für einige Monate eine eigene Off-Location schuf. „Wir haben dort für den Videodreh zu 'Golden Nights' einen Club eingerichtet und dachten danach, dass es schade wäre, das nicht weiter zu nutzen“, berichtet Bo. Schnell entwickelte sich das Projekt zum Geheimtipp fürs Wochenende, Eau Rouge spielten dort live, es legten DJs auf, jedes Mal kamen mehr Leute. Damals hatte die Band auch den Proberaum direkt nebenan, eine Art Andy-Warhol-Factory im Stuttgarter Format.

 

Heute haben sie ihren Proberaum in Zuffenhausen, aus der provisorischen Off-Stätte sind – welch Wunder! – sündhaft teure Stadtwohnungen geworden. „Dieser Ort wird für uns untrennbar mit unserer Anfangszeit verbunden sein“, wird Bo ein wenig nostalgisch. Dazu gibt es keinen Grund: Schnell verankerte sich die Band im Stadtbild, bald darauf auch darüber hinaus, machte immer wieder mit ungewöhnlichen Einfällen auf sich aufmerksam. So wie beim 3D-Audio-Konzert an der Hochschule der Medien, wo Eau Rouge mit 40 Lautsprechern und vier Subwoofern, die alle in unterschiedlicher Höhe aufgehängt wurden, ein ziemlich plättendes Sounderlebnis erschufen. Geht es nach Jonas, soll das nicht das letzte Mal passiert sein. „Dieser raumfüllende Klang passt einfach perfekt zu unserer Musik, zu diesem bombastischen Gefühl, das in die Tiefe geht. Natürlich ist es sehr aufwendig, das zu realisieren, aber wir könnten uns vorstellen, den zweiten Teil unserer Tour im Frühjahr vielleicht in entsprechenden Locations durchzuführen.“

 

Lost in Stuttgart

 

Zunächst geht es mit dem Debüt „Nocturnal Rapture“ aber erst mal durch „normale“ Clubs, am 13.10. im Zwölfzehn, wo zufällig auch das erste Konzert überhaupt stattfand. „Wir schreiben unsere Musik so, dass wir sie entsprechend live reproduzieren können“, weiß Bo. „Bei uns gibt es keine Einspieler vom Band.“ Jonas verputzt die Reste seines Croissants und grinst: „Viele wissen nicht, dass wir eine gute Live-Band sind. Die, die uns noch nie live gesehen haben, können sich gar nicht vorstellen, wie wir auf einer Bühne klingen – noch dazu ohne Bass.“ Dass der fehlt, merkt man nicht – zahlreichen Gitarreneffekten sei Dank. Überhaupt lebt das erste vollständige Album von diesen vielen Spielereien, von all den Facetten, die sie ihren Gitarren und Synthesizern entlocken, die Jonas aber auch aus seinen Stimmbändern herauskitzelt. Schlagzeuger Magnus vergleicht das gern mit einem Film wie „Lost in Translation“. Weite, Schlaflosigkeit, ferne Lichter und viel Raum für eigene Gedanken.

 

 

Hell küsst dunkel, leise küsst laut, Liebe küsst den Tod. „Ich mag es, wenn die Musik etwas gänzlich anderes transportiert als der Text“, so Bo dazu. Für „Nocturnal Rapture“ bedeutet das: schwelgerische, umschwärmende, fiebrige, melancholische Musik für die Nacht in der Großstadt, textlich kontrastiert von einem kritischen Blick auf die hemmungslose Feierkultur. „Alle jagen doch immer nur dem angeblich perfekten Moment hinterher, wollen möglichst cool sein und vergessen dabei, einen Abend wirklich zu genießen“, sagt Jonas nachdenklich. „Die Nummer 'Golden Nights' bringt diese Tragik gut auf den Punkt“, wird er von Bo ergänzt. „Man will immer noch mehr und merkt nicht, dass man das Leben dabei verpasst.“ Den dreien kann das nicht passieren. Dafür stehen sie längst viel zu oft auf einer Bühne – ganz versunken in ihrem Moment.