Immer mehr Unternehmen setzen Augmented Reality (AR) ein. Dabei werden virtuelle Objekte mithilfe von intelligenten Brillen in unsere Alltagswelt eingeblendet. Forscher prophezeien, dass die Technologie unser Leben verändern wird.

Stuttgart - Menschen, die auf Smartphones starren und Monster jagen: Das Spiel „Pokémon Go“ hat eine neue Technologie in weiten Kreisen der Bevölkerung bekannt gemacht: die Augmented Reality (erweiterte Realität). Dabei werden virtuelle Objekte auf verschiedenen Wegen in die physische Welt eingeblendet: bei „Pokémon Go“ über das Display des Smartphones, häufig aber über spezielle Brillen oder Projektionen.

 

Allerdings geht die neue Technologie sehr viel weiter, als die virtuelle Monsterjagd vermuten lässt. „Auch wenn vieles Spielerei ist, gibt es durchaus ernsthafte Ansätze“, sagt Markus Funk von der Uni Stuttgart. In seiner Promotion hat er beispielsweise ein System entwickelt, das Mitarbeitern von Behindertenwerkstätten stets den nächsten Arbeitsschritt auf einer intelligenten Brille einblendet. Die Nutzer seien dadurch nicht nur selbstständiger, sondern auch zufriedener geworden, weil sie anspruchsvollere Aufgaben übernehmen konnten, so Funk.

Jetzt erlebt die Datenbrille im Industriebereich ein Comeback

Immer mehr Unternehmen setzen ähnliche Projekte mit intelligenten Brillen um. Viele erinnern sich an die „Glassholes“-Debatte, an der die Google-Brille vor einigen Jahren gescheitert ist: Die Träger galten als arrogant, ihre Mitmenschen hatten Sorge, gefilmt zu werden, ohne es zu wissen. Aber jetzt erlebt die Datenbrille im Hintergrund ein Comeback im Industriebereich. Vor allem in der Logistikbranche laufen Pilotprojekte. Auch andere Unternehmen bieten Kopfdisplays an, die Arbeitern relevante Informationen oder Postboten den Weg zur richtigen Adresse einblenden.

„Pokémon Go“ und Google-Glass haben eine Gemeinsamkeit: Kritiker bemängeln, dass sie gar keine „echte“ AR seien. Denn die Einblendungen passen sich nicht an die Umgebung an – die Systeme sind nicht so smart, wie sie sein könnten. „‚Pokémon Go‘ ist räumlich nicht konsistent“, sagt Dieter Schmalstieg, der AR-Experte von der TU Graz und Autor des Buches „Augmented Reality – Principles and Practice“. Die kleinen Monster erkennen keine Treppen, sie bewegen sich nicht perspektivisch korrekt. „Das ist ein wesentlicher Aspekt, der AR von anderen Medien unterscheidet“, erläutert Schmalstieg. Dafür braucht man viele Sensoren, die den Nutzer verorten und virtuelle Gegenstände perspektivisch korrekt in die Umwelt einblenden. Unter anderem diese aufwendige Sensorik macht die neue Technologie derzeit noch teuer, dennoch spinnen Forscher Zukunftsvisionen. Die Geräte könnten unser Leben verändern, indem sie unsere allwissenden Organisatoren werden. Sie wissen – wie Smartphones schon heute –, wo wir gerade sind, was wir vorhaben („immer werktags um 8.30 Uhr fährt Herr Maier ins Büro, das wird er heute auch vorhaben“), sie kennen Verkehrslage, Wetter und unsere Vorlieben und können uns entsprechend lotsen. „Solche Systeme könnten mich so lenken, dass ich immer an eine grüne Ampel komme“, sagt Schmalstieg. Und das unauffällig per Einblendung direkt ins Auge, ohne dass die Interaktion mit der realen Welt beeinträchtigt wird – wir müssten nicht mehr ständig auf ein Smartphone schauen. „Informationen werden Bestandteil der realen Welt“, sagt Schmalstieg. Wir sind immer gut informiert und gleichzeitig stets präsent für Freunde, Familie oder Kollegen.

Die Augmented-Reality-Brille Microsoft Hololens kostet zurzeit 3000 Dollar

Mindestens zwei ehrgeizige Projekte sind aus dieser Zukunft zu uns herübergeschwappt: Die Augmented-Reality-Brille Microsoft-Hololens ist seit Kurzem auch in Deutschland auf dem Markt – allerdings für 3000 Dollar. Das Gerät sieht eher nach einer Brille aus als die Virtual-Reality-Headsets, auch wenn es nicht gerade filigran ist: Seine Gläser sind gleichzeitig durchsichtig und fungieren als Display direkt vor den Augen. Apps und virtuelle Objekte, die der Nutzer mittels Blickbewegungen, Sprache und Gesten auswählt, erscheinen direkt im Raum. Experten sehen diese Brille vor allem in der kommerziellen Anwendung.

Für wesentlich weniger Geld können Nutzer an Googles „Projekt Tango“ teilhaben. Das funktioniert auf dem neuesten Lenovo-Smartphone (500 Euro) und vermisst den Raum mittels zweier Kameras und eines Infrarot-Sensors in Echtzeit. Dabei werden die Bewegungen des Nutzers über die Bilderkennung seines Umfelds verfolgt und in die erweiterte Realität übertragen: Das Gerät erstellt ein 3-D-Modell des Raumes. Virtuelle Gegenstände können dadurch in die echte Welt integriert werden – etwa die Möbel eines Anbieters, die der Kunde in seinem Wohnzimmer „platziert“.

Forscher prophezeien der erweiterten Realität eine größere Relevanz als der virtuellen

Viele Forscher prophezeien der erweiterten Realität eine größere Relevanz als der virtuellen, weil sie keine Konkurrenz zur physischen Welt darstellt. Gleichzeitig warnen sie, es könne auch zu viel werden. „Es gibt jede Menge AR-Apps, bei denen man denkt: Wenn die Leute das die ganze Zeit benutzen, werden sie verrückt“, sagt Markus Funk. Im Film „Hyper Reality“ von Keiichi Matsuda kann man mit einer jungen Frau mitleiden, die per AR-Brille durch ihr Leben gelotst wird. Der Londoner Designer versteht sein Werk als Warnung vor zu viel Virtuellem in unserem Leben: Jeder Anruf wird eingeblendet, jede Nachricht, an der Bushaltestelle folgt die junge Frau virtuellen Pfeilen zum Ausgang, die Geschäfte in der Innenstadt schreien sie förmlich an, Werbeanzeigen und Kaufaufforderungen blenden sich in ihr Sichtfeld. Im Laden überblenden Sonderangebote die Regale, kleine Wesen springen im Einkaufswagen herum und rufen ihr zu, welcher Einkauf die meisten Punkte gibt.

Was für eine Erleichterung, als das System zusammenbricht und hinter all den Einblendungen ein ganz normaler Supermarkt erscheint. Aber der Kundenservice ist schon dran, die bunten Einblendungen poppen wieder auf. „Kann ich von vorne anfangen?“, fragt sie verzweifelt. Schade um die schöne alte Welt.