Der Wahlkampf ist vorbei. Die meisten fanden ihn öde. Beruht das auf einem schlichten Missverständnis? Gibt es nicht eher dann Grund zur Klage, wenn die Politik besonders spannend wird?

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Berlin - Heute ist ja mehr Harmonie.“ So lautet eine Erkenntnis, die uns der jüngst verstorbene Heiner Geissler in seinem letzten Interview hinterließ. Er sprach über Zeiten, in denen sich niemand beklagen konnte, Wahlkämpfe seien langweilig. Zeiten in denen er die sozialdemokratische Konkurrenz wegen einer Wahlkampflüge eines Verbrechens bezichtigte und sich selbst als „schlimmster Hetzer seit Goebbels“ beschimpfen lassen musste. Sehnen wir solche Zeiten wieder herbei? Jedenfalls ist es heute eher ein Gemeinplatz, die Langeweile im aktuellen Wahlkampf zu beklagen.

 

Eine Zeichnung bringt es auf den Punkt. Sie zeigt die Kontrahenten Angela Merkel und Martin Schulz. Wie ein altes Ehepaar sitzen sie auf einer Parkbank, blicken der untergehenden Sonne entgegen und tauschen Komplimente aus. Unterzeile: „Der Wahlkampf tritt in die heiße Phase“. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ hatte diese Karikatur auf ihrer Titelseite abgedruckt. War Politik in einer entscheidenden Phase jemals öder, spannungsärmer, uninteressanter? Und woran liegt das bloß? An einem Übermaß von Übereinstimmung? An Schulzens Donquichotterie, seiner Aussichtslosigkeit? Merkels vermeintlicher Unbezwingbarkeit? Am Fehlen jeder Wechselstimmung? Ja, es wird nicht gebrüllt in diesem Wahlkampf (und wenn, dann nur aus der Kulisse), kaum geschimpft, wenig gepöbelt, nicht beleidigt. Aber ist das beklagenswert?

Als würde in den Wassergläsern Chloroform serviert

„Yes, we gähn“ war schon 2009 ein gängiger Spott über die lahme Stimmenwerbekampagne – eine Verballhornung von Obamas Mantra: „Yes, we can“. Damals erprobten Merkels Strategen erstmals ihre „asymetrische Demobilisierung“, ein Konzept, das darauf abzielt, die Anhänger der Konkurrenz einzuschläfern. So scheint es jetzt wieder vielen zu ergehen: Als würde bei Talkshows und Podiumsdiskussionen in den Wassergläsern Chloroform serviert.

Schulz beklagt sich über Merkels „Schlaftablettenpolitik“, hat seine aufputschende Wirkung bei den eigenen Anhängern aber auch längst eingebüßt. Nur 16 Prozent empfinden diesen Wahlkampf als besonders interessant, haben die Demoskopen aus Allensbach erfragt. Mehr als zwei Drittel der TV-Nation waren von dem Bildschirmdisput zwischen Merkel und Schulz angeödet. Die spannendsten Fragen der vergangenen Wochen lauteten: Wer rennt als nächstes aus dem Fernsehstudio? Warum gibt es kein zweites TV-Duell? Und wer wird am 24. September Dritter?

Die große Koalition habe die Republik „stark betäubt“, beschwert sich der Philosoph Peter Sloterdijk in der „Neuen Zürcher Zeitung“. Das Wort Wahlkampf hält er für Etikettenschwindel, es töne „wie ein Zitat aus verklungener Zeit“. Merkel ist für ihn die große Anästhesistin des politischen Betriebs. Sie habe „den Deutschen als Wählervolk im Ganzen den Sinn für das Interessante ausgetrieben“. Das nunmehr zwölfjährige Merkel-Regiment, das am Sonntag wohl verlängert wird, sei zur „Lethargokratie“ ausgeartet. Den Begriff hatte Sloterdijk schon vor vier Jahren erfunden.

Bei solchen Diagnosen schwingt auch schlichte Herablassung mit über eine notorische Unfähigkeit, die der Politik gerne angelastet wird. Die intellektuelle Larmoyanz bringt einen Mangel an Wertschätzung für stabile Verhältnisse zum Ausdruck, für das Verantwortungsgefühl der staatstragenden Parteien. Was ist so tragisch daran, wenn das Einvernehmen einer Mehrheit stärker ist als das Krakeelen einer Minderheit? Nach dem Wahlkampf von Donald Trump ist die Sehnsucht nach Radau und Polarisierung womöglich gestillt.

Andernorts herrscht keine Langeweile

Andernorts herrscht keine Langeweile: Trump sorgt mit seinen Twitterbotschaften im Stundentakt für neue Überraschungen. In Großbritannien gewährleisten Maulhelden wie Nigel Farage und hyperaktive Irrlichter wie Boris Johnson (über den der „Guardian“ urteilt, er sei „ein Selbstdarsteller ersten Grades mit zweitklassigem Intellekt“) für Abwechslung in der Politik. In Frankreich bestimmten Gehässigkeit und Aggressivität den Ton der Fernsehduelle vor der Wahl. „Lieber ein Wahlkampf zum Gähnen als Brüllerei und Verachtung“, sagt die französische Publizistin Pascale Hugues. Hass und Angst lassen jegliche Langeweile vergessen. Gewalt schafft Spannung. Ein Attentat, ein Putsch, Aufruhr machen Politik zum Thriller. Und wenn die AfD erst Fuß gefasst hat im Bundestag, ist dort für Unterhaltung gesorgt. Dann werden wir uns wohl zurücksehnen in Zeiten, als ein gesitteter Umgangston herrschte, wenig Aufgeregtheit, dafür bisweilen ein Mangel an Leidenschaft.

Politik tendiert schnell zur Langeweile, wenn sie nicht zur bloßen Show verkommt, zur Propaganda, zur schlichten Demagogie. Seriöse Politik ist ein langwieriges Geschäft. Medien, die auf Events, Personalitygeschichten und Unterhaltung fokussiert sind, fällt es schwer, das angemessen abzubilden. Die vermeintliche Langeweile, die den aktuellen Wahlkampf bestimmt, ist womöglich auch das Resultat des inszenierten Überflusses an Wahlkampfpräsentation auf dem Bildschirm. Kein Fernsehabend vergeht ohne „Wahlarena“, Kandidatenporträts, Livediskussionen, „Klartext“ zur Programmatik der Parteien oder Fragen aus dem Publikum. Die Zuschauer, mit Krimis und Serien erzogen, erwarten natürlich Neuigkeiten, Spannung, Überraschungen. Davon hat die Politik aber nicht pausenlos etwas zu bieten – sofern sie nicht auf billige Effekte angelegt ist.

Symptom schlichter Zufriedenheit

Aber die vermeintliche Langeweile hat noch einen anderen Hintergrund. Sie hat zu tun mit dem Wandel der Parteien. Die haben sich von ihren ideologischen Traditionen verabschiedet. Die CDU ist längst keine stockkonservative Altherrenriege mehr. Die SPD musste sich spätestens unter Gerhard Schröder mit den Ideen einer eher liberalen Wirtschaftspolitik anfreunden. Der Abschied von der Ideologie und dem Lagerdenken führte zu einer Entdramatisierung der Politik. In postmodernen Demokratien sind politische Gegner sich nicht mehr spinnefeind. Sie wetteiferten vielmehr darin, „sich gegenseitig die vernünftigen Argumente aus dem Mund zu nehmen“, so beklagt Sloterdijk.

Grabenkämpfe mögen spannend und kurzweilig sein. Aber bringen sie uns wirklich voran? Der Graben, der einst mitten durch die Gesellschaft verlief, hat sich an die Ränder verlagert. Er trennt die Wutbürger vom Establishment, die AfD vom schwarzrotgrüngelben Mainstream. Auf vielen Themenfeldern unterscheiden sich die etablierten Parteien allenfalls noch graduell, auf manchen haben sie sich bis zur Unkenntlichkeit einander angepasst. Auch das mindert den Unterhaltungswert von Konflikten und der Konkurrenz beim Buhlen um Wählerstimmen.

Langeweile im Wahlkampf ist unter Umständen auch ein Symptom schlichter Zufriedenheit. „Langeweile ist ein Luxusproblem“, sagt der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler. „Sie tritt vornehmlich in Gesellschaften auf, die keine anderen Probleme haben, die weder an Not und Elend noch an Gewalt und Zerstörung leiden.“ Der in Stuttgart geborene Philosoph Georg Friedrich Wilhelm Hegel formulierte das mit anderen Worten so: Im Buch der Weltgeschichte seien die Perioden des Glücks leere Seiten.

Die Langeweile ist nur eine Kulisse

In den Annalen der deutschen Geschichte werden die Merkel-Jahre als langwährende Phase des wirtschaftlichen Wohlstands verbucht sein. Den Deutschen geht es besser als den meisten ihrer europäischen Nachbarn. Die Löhne steigen, die Arbeitslosigkeit sinkt. Die Erwerbstätigkeit bewegt sich auf Rekordniveau. Der Staat schwimmt im Geld. Steuern wurden schon lange nicht mehr erhöht. Auf solchem Grund wächst nichts, was die Politik auf eine Weise anstacheln könnte, die das Publikum als spannend und kurzweilig erlebt. Somit ist die Langeweile, die den aktuellen Wahlkampf zu bestimmen scheint, auch Ausdruck des Biedermeiers, der die Spätphase der Merkel-Ära prägt: die von Sloterdijk beschriebene „Unwilligkeit der Bevölkerung, essenzielle Veränderungen zu dulden“, belohnt einen Politikstil, der sich auf Gefälligkeit beschränkt und möglichst ohne Antworten auszukommen versucht. Selbst der Politveteran Theo Waigel, einst Finanzminister unter Kohl, jetzt größter Merkel-Fan in der CSU, bemängelt: „Große Zukunftsentwürfe kommen in diesem Wahlkampf zu kurz.“

Die Verächter der Langeweile seien an einen chinesischen Fluch erinnert, den der Präsidentschaftskandidat Robert F. Kennedy einst zitiert hat: „Mögest du in interessanten Zeiten leben!“ Er kam darin um. Einen anderen Fluch brandmarkt die „Washington Post“. Sie schreibt über den „Fluch der Harmonie“ und spielt damit auf den deutschen Wahlkampf an. Für den Autor, den Politikwissenschaftler Marcel Dirsus, der an der Universität Kiel lehrt, ist die Langeweile dieses Wahlkampfs nur eine Kulisse. Unter der Kuscheldecke schlummern ungelöste Probleme, ignorierte Risiken. Die große Koalition ist vielleicht das beste Regierungsmodell für die Gegenwart. Sie gewährleistet, dass die Maschinerie des Staates verlässlich und reibungsarm läuft. Sie bürgt für eine breite Akzeptanz der politischen Entscheidungen. Sie ist jedoch mit einem selbstzerstörerischen Gen behaftet.

Schlecht für die Politik

In großkoalitionären Zeiten erlahmt der Reformeifer beider Regierungspartner, sie lähmen sich wechselseitig. Merkels große Koalitionen haben das Land schlecht auf schlechte Zeiten vorbereitet. Die „digitale Revolution“ ist eine beliebte Floskel, vier Minister sollen sich darum kümmern. Sie tun es mit minimaler Effizienz. Deutschland hat die drittälteste Bevölkerung aller Staaten weltweit. Antworten auf die Fragen, die sich daraus ergeben, hat die Kanzlerin vertagt. Die Flüchtlingskrise ist keineswegs bewältigt, wird im Wahlkampf aber weitgehend ausgeblendet. Ein bisschen weniger Langeweile und ein bisschen mehr Konfrontation wären hilfreich. Das Übermaß an Harmonie sei „großartig für Merkel, aber schlecht für Deutschland“, schrieb die „Washington Post“.

Die Langeweile ist unter Umständen auch schlecht für die Politik. Das könnte sich an diesem Sonntag erweisen. Eine Demokratie ist darauf angewiesen, dass sie für die Wähler hinreichend attraktiv bleibt. Sobald diese der Eindruck beschleicht, da herrsche nur ein großes Einerlei, werden sie sich den Schreihälsen des politischen Geschäfts zuwenden. Die haben selten seriöse Angebote, leben alleine von der Provokation, von Patentrezepten, von dem Versprechen, Probleme ließen sich auf dem Wege kurzer Prozesse lösen. Doch wem ist nach solcher vermeintlichen Kurzweil?