Oben rauschen die Bäume, unten schwillt der Lärm zu einem betäubenden Getöse in der Mittagshitze. Das Freibad ist der Ort der Sommermärchen. Hier wird keine Venus schaumgeboren, aber Susi im Badeanzug sieht mindestens so gut aus.

Psychologie und Partnerschaft: Eva-Maria Manz (ema)

Stuttgart - Die Sonne brennt, der Nachmittag liegt ausgestreckt da wie ein toter Mann. Ringsum flirrend heiße Luft, die den Hals trocken werden lässt, an der man glaubt zu ersticken. Romy Schneider und Alain Delon lägen jetzt mit einem Drink am Swimming Pool, müssten nur zwei Schritte gehen bis zum Beckenrand, hineinfallen ins blaue Nass. Mit dekadenter Lässigkeit, der Überlegenheit jener Menschen, die schön und reich sind und gelangweilt, ihr Pool Zierde und Ausdruck eines Herrschaftsverhältnisses: die Natur gehört uns, wie alles andere eigentlich auch. Der Luxus jener, die ihn sich leisten können.

 

Der gewöhnliche Städter geht ins Freibad. Er muss sich einreihen in die langen Schlangen vor den Drehkreuzen, wer nicht aufpasst, bekommt die schwere Tasche des Vordermannes in den Bauch gerammt. Beim Blick nach unten offenbaren sich nackte Füße in schmatzenden Gummilatschen. Schwitzig-feuchte Oberarme berühren sich beim Nebeneinander vor den Kassen. An den Wänden mahnende Tafeln: Nicht von den Seiten ins Wasser springen, kein Essen und Trinken am Beckenrand! Mit stoischem Blick lässt der Städter über sich ergehen, was er ohnehin kennt: anstehen, Regeln befolgen, dem Nebenmann zu nahe kommen. Einer von vielen sein.

Jeder Tag genügt sich selbst

Am Morgen noch ist das Freibad ein göttlicher Ort, wie neu geboren jeden Tag. Diese ersten Stunden, das Wasser klar und hellblau wie später nie mehr, die Sonne fern am Horizont, zu so vielem bereit, ohne Argwohn, voller Spielfreude glitzernd auf dem Spiegelglatt des frischen Wassers. Ältere Frauen, die „Schwimmbad“ sagen, rubbeln sich ab am Beckenrand, mit Kappen und ordentlich sitzenden Badeanzügen, in denen sie scheinbar geboren wurden. An kleinen Tischen spielen Rentner in engen Badehosen Karten. Und am Kiosk werden die Waren gelegt, verpackt, die Oberflächen geschrubbt, Kühlschränke befüllt. Vorzeichen all dessen, was noch kommen mag, an nur einem Tag, der sich selbst genügt.

Schwimmen, baden, sonnen, jeder für sich – ein Schauspiel. Sich einzureden, man gehöre nicht dazu, ist Heuchelei. Diese heißen Tage, in denen es unerträglich eng wird in den Dreizimmerwohnungen, Reißaus zu nehmen die einzig mögliche Antwort zu sein scheint, die Abkühlung für Körper, Geist und Seele – sie kehren verlässlich jedes Jahr wieder. Doch das Kühle muss man teilen. Das Nasswerden ist niemandem hier allein vergönnt. Und bei vielen, die das Jugendalter hinter sich gelassen haben und sich nicht am Babybecken aufhalten, sieht man sie spätestens ab dem Mittag im Blick: diese Missgunst gegenüber anderen, die auch nur einen Zentiliter des hellblauen Wassers für sich beanspruchen.

Nach dem Läuten der Schulglocken fallen die Jugendlichen ein. In ihren quadratischen Taschen gerade so viel, wie es braucht, um den Körper einen Nachmittag lang gebührlich verpackt auszupacken. Bei Gewöhnung nimmt es sich dann fast aus wie ein Hintergrundrauschen. Geschrei, das beim Springen und Planschen und Pöbeln anschwillt wie ein Trommelwirbel. Unerklärbar ist die Ruhe derer, die braun glänzend auf ihren Handtüchern liegen mit geschlossenen Augen, als gäbe es nirgendwo eine größere Oase der Ruhe.

Das Grausen am Nachmittag

„Es ist, mittags, als stehe über der Welt ein ewiger Blitz, so lange der Blitz leuchtet, ist alles erstarrt, tot, gefroren. Kein absoluter Augenblick ist schrecklicher als der, der kein Ende nimmt“, heißt es bei Friedrich Kittler im Band „Baggersee“. Doch von dem Grausen spüren sie nichts, die Jugendlichen, die am Nachmittag das Bad erobern. Für sie ist jeder Moment ohne vorher und nachher, jeder Tag alles oder nichts.

Ein Junge schubst einen anderen ins Wasser. Schnell verwandelt der den Fall in einen Sprung, streckt die Arme nach vorne, biegt den Körper. Kurz bevor er eindringt, hat er zurück gewonnen, was durch den unfreiwilligen Stoß scheinbar verloren war, springt in vermeintlich geplanter Weise platschend ins Wasser. Am Beckenrand sitzen Mädchen mit hoch gezogenen Knien und flüstern einander kichernd etwas zu.

Nebenan auf der Wiese breiten Familien mit kleinen Kindern ihre Decken aus. Die Mütter wenden den Blick zum Himmel, wo wird der Schatten in ein paar Stunden sein? Eltern ziehen vom Eingang kommend ganze Bollerwagen. Darin: aufgeblasene Schwimmringe, Handtücher, Essen, Kinder. Mit welcher Verve sie ihre Freizeit umarmen, ist bewundernswert. Überzeugt scheinen sie auszurufen: Wir haben hier Spaß und sind dafür optimal vorbereitet. Was ist gegen so viel Entschlossenheit die Melancholie dessen, der sich im Freibad immer nur als Zuschauer fühlt?

Hier sieht niemand aus wie ein Topmodel

Im Alltag tragen wir wie selbstverständlich Uniformen, Businesskleidung, die richtigen Markenklamotten, das vorteilhafte Outfit. Im Freibad entblößen wir uns sorgenlos und überlassen fast nichts mehr der schieren Mutmaßung. Beinahe nackt stolzieren wir um den Beckenrand und zeigen uns einander. Die geheimen Körperteile haben wir scheinbar züchtig bedeckt, derweil wir sie durch die Bademode in Wahrheit hervorheben, betonen und kess in Szene setzen, wie mit Textmarker rot angestrichen: Schau da hin!

Ein Laufsteg für alle, egal wie sehr sich mancher ironisch oder scheinbar gleichgültig dagegen wehrt. Doch hier sieht niemand aus wie ein Topmodel. Es gibt keine Photoshop-Retusche im Freibad, wir sehen dicke Pölsterchen, Muttermale, Pickelrücken, Schwabbelbäuche, Narben, alte und junge Körper. Wir entkommen einander nicht, eingezäunt im Freizeitparadies.

Dann tauchen alle ab ins gleiche kühle Wasser, als setzten wir uns nacheinander mit nackten Hintern in denselben Waschzuber. Jedes Mal, wenn wir auf die Toilette gehen, ist die Klobrille vollkommen nass, offen lassend, woher diese Nässe stammt. Und wenn es überall im Freibad nach Chlor riecht, dann wohl vor allem deswegen: um uns Glauben zu machen, dass mindestens die Chemie uns einander fern halten könne. Die Filteranlagen der Pools arbeiten ächzend an gegen Schweiß, Urin, Hautpartikel, entfernen den Dreck aus kristallklar eingefangenem Wasser.

Wir treiben an der Oberfläche des Pools wie dicke Korken, fröhlich, dass wir alles sehen, diesen Ort beherrschen. Die Welt ringsum ist ein quadratisch-übersichtliches Plateau mit der Möglichkeit, in der Mitte abzutauchen, zu verschwinden. Eine kleine Flucht, ein Abenteuer mit maximaler Risikominimierung. Unter uns nirgendwo Haie, Schlingpflanzen oder reißende Strömungen. Oben in den Bäumen ein leises Flattern, ein warmes Rauschen, der Lärm der Stadt in weiter Ferne.

Sehnsuchtsmomente und Nostalgie

Im Freibad wächst das Mädchen zur Frau, der Bub zum Mann. Wer im vorigen Jahr noch im Spaßbecken Arschbomben zelebriert hat und mit Mama auf der Familiendecke saß, findet sich im nächsten Sommer plötzlich mit der besten Freundin allein auf weiter Flur. Der Bikini passt nicht so gut wie der von Julia aus der 9B, und im Schneidersitz schauen die Schenkel fett aus. Überhaupt, was soll man jetzt eigentlich tun? Am besten nichts und nur gucken, zupfen am Höschen und am Oberteil, schauen, wo der Körper schon braun ist und wo noch weiß. Oder man ist ein Junge und schubst und schreit und hüpft ins Wasser, als gäbe es kein Morgen.

Maximale Verunsicherung. Reizende Stunden der Unsicherheit. Oft schmerzhaft dann, Sehnsuchtsmomente für später. Habe ich genug Taschengeld für Pommes rotweiß? Jacqueline hat nur ein Bein rasiert (für das andere hat es zeitlich nicht mehr gereicht). Peinlich. Bettina wird Betty Busenwunder genannt. Jonas sieht süß aus. Marcel geht mit Romy.

Im Freibad passiert nie wirklich etwas

Jeder ist hier ein Zuschauer. Denn im Freibad passiert nie wirklich etwas. Doch was alles geschehen könnte! Der Zustand des Ungefähren schwebt in der Luft. Es ist das Gefühl der Jugend, und nirgendwo findet man es so gut abgebildet wie im Freibad. Selbst der ersehnte erste Kuss passiert eher noch in der Ecke auf dem Schulhof, als auf der von überall gut einsehbaren Matte im Freibad. Ein Necken, ein Schubsen, Berühren unter Wasser, ja. Doch was könnte noch alles . . . Ein Ort der Voyeure. Und am Ende waren die bloß erträumten Begegnungen vielleicht sogar die schönsten von allen. Im Freibad liegen diese Momente herum wie Muscheln am Strand.

Ein solcher Tag nutzt sich nicht ab, schmeckt zum Abend hin nicht weniger süß. Im Gegenteil, wir erkennen seinen Geschmack noch Jahre später, entdecken ihn wieder, jeden Sommer im Freibad – Eis, Chlor, Sonnencreme, Pommes und: alles offen. Die Suche nach einem Gestern an einem Ort, der weder Vergangenheit noch Zukunft kennt. Der wahre Grund, warum wir immer wieder kommen. Im Freibad geben wir uns der Nostalgie hin. Wir haben nichts mehr dagegen, nur ein Zuschauer zu sein. Denn mehr braucht es hier nicht, und genau darin liegt der Zauber.

Am Abend die Versöhnung

Bei Bertolt Brecht heißt es: „Im bleichen Sommer, wenn die Winde oben/ nur in dem Laub der großen Bäume sausen/ wie die Gewächse, worin Hechte hausen./ Der Leib wird leicht im Wasser. Wenn der Arm/ leicht aus dem Wasser in den Himmel fällt/ wiegt ihn der kleine Wind vergessen/ weil er ihn wohl für braunes Astwerk hält.“ Und vielleicht kann es zum Abend hin solche berauschenden Momente des Einswerdens geben. Zumindest glauben wir das.

Wenn wir alles hingenommen, durchgestanden, erlebt haben, wir sonnenwarm müde sind unter den wiegenden Zweigen der alten Bäume. Wenn die Zeit, in der wir gesehen und gesehen werden wollen, vorbei ist. Dann können wir abtauchen in die Stille. Wir müssen nicht mehr gewaltsam eindringen, nicht ankämpfen gegen den Druck der Wassermassen, es geht nicht mehr darum: Freund oder Feind? Das satte Blau liegt matt, erschlagen da. Badewächter werden am Abend mit prüfendem Blick noch eine letzte Probe aus dem Wasser nehmen. Bald wird das Bad wieder ganz allein sein, sich erholen in der Nacht, geputzt von seinen Filtern, bereit für einen neuen Tag. Als wäre nie etwas geschehen.