Nach den Ausschreitungen in Charlottesville haben der US-Präsident und seine Anhänger gezeigt, wie tief verwurzelt rassistisches Denken in Teilen der amerikanischen Kultur ist. Das weiße Amerika sollte sich eingestehen, dass die Geschichte seines Landes eine Geschichte der Unterdrückung ist.

Charlottesville - Eigentlich hat sich Amerika längst an die vielen Verwandlungen von Donald Trump gewöhnt. Schon während seines Wahlkampfs sagte er jeder Wählergruppe das, was diese hören wollte. Wenn er in Atlanta sprach, liebte er die Afroamerikaner, am Gay Pride Day gab er sich als Vorkämpfer für Schwulenrechte, in den Hügeln der Appalachen war er ein Freund der Bergarbeiter, in New York beschwichtigte er Banker an der Wall Street. Kommentatoren bezeichneten ihn deshalb schon als wandelnden Algorithmus, der aufgrund von gekauften Datensätzen das ausspuckt, was von der jeweiligen Konsumentengruppe gewünscht wird. Eine echte Trumpsche Überzeugung, etwas, wofür der Präsident steht, schien nicht erkennbar.

 

Trumps Verrenkungen nach den Ausschreitungen von Charlottesville schienen auf den ersten Blick eine ähnliche Qualität zu besitzen. Am ersten Tag verurteilte er beide Seiten – die Nazis und weißen Suprematisten ebenso wie die Gegendemonstranten – für das Chaos und die Gewalt auf den Straßen von Charlottesville. Wohl aufgrund der Empfehlung von besonneneren Beratern quälte er sich am Sonntag dann jedoch ein klares Wort gegen Neo-Faschismus und Rassismus aus dem Leib.

Zerrissenheit zwischen den Gruppen

Keine 24 Stunden später war das wieder vergessen. Als ihn Reporter in New York zur Rede stellten und er spontan reagieren musste, platzte es aus ihm heraus, er zeigte sein wahres Gesicht. In einem unkontrollierten Zornesausbruch nahm Donald Trump erneut die nativistischen und rassistischen Hetz-Gruppen in Schutz, die in Charlottesville aufmarschiert waren und setzte ihre Gewalt mit jener ihrer linken, linksliberalen oder auch nur demokratieliebenden Gegner gleich.

Kommentatoren haben dieses Hin und Her des Präsidenten als Zerrissenheit zwischen zwei Gruppen beschrieben, die er politisch dringend braucht. Zum einen ist da das konservative Establishment in Washington, das er zum Regieren dringend benötigt, das aber bei der Annäherung an offen faschistische und rassistische Gruppen entschlossen einen Strich zieht. Zum anderen sind da die weißen Suprematisten, deren Mobilisierung er nicht zuletzt seinen Wahlsieg verdankt.

In der vergangenen Woche wurde jedoch spürbar, dass das Flirten mit Faschisten von Seiten Trumps nicht nur politisches Kalkül war, eingeflüstert von seinem ultrarechten Strategen Steve Bannon, sondern eine tief empfundene Affinität. Der ehemalige Ku-Klux-Klan-Anführer David Duke spürte das, als er Trump für seine Ehrlichkeit dankte. Der neokonservative Journalist Jacob Heilbrunn brachte es auf den Punkt, als er sagte: „Donald Trump ist davon überzeugt, dass die Hegemonie des weißen Mannes in Amerika und in der Welt bedroht ist und mit allen Mitteln verteidigt und wieder hergestellt werden muss.“

Eine Woche der Wahrheit

Diese Woche von Charlottesville ist für Trump und Amerika ein Augenblick der Wahrheit. Natürlich war vielen bereits vorher klar, warum Trump gewählt wurde. Was hinter dem kryptischen Slogan „Make America Great Again“ steht, ließ eigentlich nur eine Interpretation zu. Die Mehrheit der Trump-Wähler war mit einem multi-ethnischen, post-rassischen, kosmopoliten Amerika, das während der Obama-Jahre zumindest als Möglichkeit am Horizont erschien, nicht zurechtgekommen.

Doch jetzt liegen die Karten auf dem Tisch. Vor allem Trumps Empörung angesichts der Tatsache, dass die von ihm als „Alt-Left“ titulierte Opposition in Charlottesville und anderswo die Monumente von Südstaaten- Ikonen wie dem Bürgerkriegsgeneral Robert E. Lee nieder reißt, offenbarte seine rassistische Überzeugung. „Sie zerstören das nationale Andenken“, meinte Trump und fragte: „Wo soll das enden? Ist George Washington als nächstes dran?“

Kaum etwas kann deutlicher machen, dass die post-rassische Gesellschaft eine Schimäre war, als diese Auseinandersetzung um die historische Einordnung des Bürgerkriegs. So erscheint die Wahl Obamas, vor neun Jahren vom liberalen wie vom schwarzen Amerika euphorisch gefeiert, aus heutiger Sicht wie eine Illusion von Gleichberechtigung, Gerechtigkeit und Toleranz, die eine weitaus brutalere Realität dieses Landes übertünchte.

Der Fortschritt unter Obama war nur ein symbolischer

Natürlich ist es skeptischeren Beobachtern schon längst klar, dass dem symbolischen Fortschritt der Wahl Obamas kein Fortschritt in den Lebensbedingungen von Minderheiten oder in den Rassenbeziehungen des Landes folgte. „Wir wollten glauben, dass wir weiter gekommen sind“, schrieb der schwarze Soziologe Eddie Glaude Jr. von der Princeton Universität in seinem Buch „Democracy in Black“ kurz vor der Wahl Trumps im vergangenen Jahr. „Aber wir haben in den vergangenen acht Jahren so viel Hässlichkeit gesehen. Wie oft mussten wir dabei zusehen, wie gepeinigte schwarze Eltern ihre Kinder begraben mussten, wie sie vor der Presse standen und Antworten verlangten, begleitet von anderen Eltern, die dieses Leid teilten.“ Ironischerweise trat die Schande einer epidemischen, rassistisch motivierten Polizeigewalt unter dem ersten schwarzen Präsidenten der USA deutlicher in das Bewusstsein der allgemeinen Öffentlichkeit denn je. Die Morde an Michael Brown, Eric Garner, Sandra Bland, Trayvon Martin und vielen anderen schienen beinahe wöchentlich Schlagzeilen zu machen.

Schwarz und Weiß in zwei verschiedenen Welten

Überraschend war das jedoch nur für die weiße Mehrheit, die vor den harten Tatsachen des schwarzen Lebens die Augen verschließen konnte. Für Afroamerikaner waren Ferguson und Baltimore und die Geburt der Black-Lives-Matter-Bewegung hingegen lediglich Momente, in denen das Land endlich einmal hingeschaut hat, wie ihre Lebenswelten tatsächlich aussahen.

Es war ein ähnlicher Moment wie jener, den der schwarze Schriftsteller James Baldwin schon 1963 beschrieb, als schwarze Demonstranten in Birmingham, Alabama mit einer Bombe attackiert wurden, und tagelange Unruhen folgten: „Für weiße Amerikaner waren das wie Nachrichten vom Mars. Schwarze Amerikaner waren nicht überrascht.“ 1979 führte Baldwin in seinem kurzen Essay „Remember This House“ aus, dass Schwarz und Weiß in vollkommen verschiedenen, voneinander abgetrennten Realitäten leben: „Da gibt es diesen grotesken Appell an die Unschuld, die wir etwa in Bildern von Doris Day und Gary Cooper finden. Und dann sehen wir den unterirdischen, gepeinigten Ausdruck von Ray Charles. Zwischen diesen beiden Erfahrungsebenen hat es in Amerika noch nie einen Austausch gegeben.“

Obama hat die Armut kaum thematisiert

Für Baldwin war der gelebte Wohlstand und das bürgerliche Glück des weißen Mittelstandes ein Affront: als eine gelebte Lüge, die völlig die Realität anderer ausblendet, auf deren Rücken dieser Wohlstand geschaffen wurde. Mit der Black-Lives-Matter-Bewegung ist ausgerechnet im Zeitalter Obamas nun eine neue Generation schwarzer Radikaler entstanden, die sich weigert, still zu halten. Und sie hat sich von Anfang an von Obama unbeeindruckt gezeigt.

So bezeichnet Eddie Glaude in seinem Buch Obama als „Confidence Man“, als Zuversichts-Prediger, der den Menschen das Schlangenöl von Hoffnung und Wandel verkauft habe. Darin habe er sich allerdings in nichts von seinen demokratischen Vorgängern Carter oder Clinton unterschieden. In Wirklichkeit sei es ihnen nur darum gegangen, die schwarzen Stimmen einzufangen, ohne eine wirkliche Verbesserung ihrer Lebensumstände zu erreichen.

Die Zahlen sprechen laut Glaude für sich. So habe sich das schwarze Amerika, anders als das weiße Amerika, nie von der Wirtschaftskrise von 2008 erholt. Während das weiße Amerika 11 Prozent seines Wohlstandes einbüßte, verlor das schwarze Amerika 31 Prozent. 35 Prozent der schwarzen Haushalte verloren alles. Die Arbeitslosenzahlen unter Afroamerikanern liegen schockierend hoch – in manchen Gegenden unter schwarzen Männern bei 50 Prozent. 25 Prozent der Afroamerikaner leben unter der Armutsgrenze.

Obama, so Glaude, habe Armut nur einmal angesprochen – als der linke Kandidat John Edwards, der als Vorkämpfer der Entrechteten angetreten war, ihm das Thema aufzwang. Nachdem Edwards wegen seiner außerehelichen Affären aus dem Rennen ausschied, war von Obama nie mehr etwas zum Thema Armut zu hören gewesen.

Revision der amerikanischen Geschichtsschreibung

Obamas Glauben an die Reformierbarkeit von Amerika, an eine „more perfect union“, klingt angesichts dieser Tatsachen in den Ohren von Leuten wie Glaude hohl. Sie erinnern an das Versprechen von Robert Kennedy Mitte der 1960er-Jahre, dass einmal der Tag kommen werde, an dem ein schwarzer Mann Präsident werden kann. „Für Weiße“, sagte damals James Baldwin, „mag das progressiv klingen. Für uns ist es ein Hohn.“ Für Afroamerikaner impliziert das Versprechen langsamen Fortschritts, dass sie noch Lichtjahre von der wahren Gleichstellung entfernt sind und auf die Gunst gütiger Weißer angewiesen. „Wir wollen kein Wohlfahrtsprojekt sein“, so Baldwin. „Wir sind seit 400 Jahren hier.“

Was schwarze Denker wie Glaude und seinerzeit Baldwin oder auch der preisgekrönte Essayist Ta-Nehisi Coates wollen, ist nicht etwa ein langsamer Fortschritt, an den sie ohnehin längst vollkommen den Glauben verloren haben. Was sie wollen, ist eine radikale Revision der amerikanischen Geschichtsschreibung. „Die Geschichte Amerikas ist die Geschichte des schwarzen Amerika und es ist keine schöne Geschichte“, schrieb James Baldwin.

Manche fordern Reparationszahlungen

Doch es ist nötig, sie zu erzählen, wenn die USA und die amerikanische Idee wirklich eine Überlebenschance haben wollen. Das weiße Amerika muss seine Fiktionen über die Quellen seines Wohlstands und über seinen moralischen Zustand aufgeben und schonungslos eingestehen, dass die Geschichte Amerikas eine Geschichte der Unterdrückung ist. Durch Reparationszahlungen beispielsweise, wie Ta-Nehisi Coates sie fordert. Lediglich dann kann es eine Zukunft geben, die nicht mehr auf Gewalt und Unterdrückung beruht.

Von einer Trump-Regierung und deren Anhänger ist das nicht zu erhoffen. Das macht alleine die Reaktion des Präsidenten auf die Demontage von Symbolen des Südstaaten-Regimes deutlich. Das weiße Amerika hält sich verzweifelt an seinen Fiktionen fest, mit denen es sein suprematistisches Regime rechtfertigt.

Immerhin hat nun die Schlacht um die amerikanische Realität begonnen, auf den Straßen von Charlottesville ist sie offen und unbarmherzig ausgebrochen. Der Ausgang ist allerdings weiter ungewiss.