Der Stuttgarter Markus Strauß hat sich auf Essbares aus Wald und Wiese spezialisiert – dazu gehören rund 1000 heimische Blätter, Beeren, Nüsse und Wurzeln. Ihm geht es nicht um das Überleben im Degerlocher Busch, sondern um eine neue Esskultur.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Eine längere Wanderung sollte man mit Markus Strauß lieber nicht unternehmen. Denn vorwärts kommt man mit ihm kaum – alle paar Meter entdeckt er wieder eine essbare Pflanze und beginnt langsam zu sammeln: Giersch, Haselnüsse, Knoblauchsranke, Löwenzahn oder Vogelmiere, alles kommt in seine Dosen. Die Wälder und Felder rund um die Waldau bieten, wie der Laie staunend zur Kenntnis nimmt, Essbares in Hülle und Fülle: „Man muss nur die Augen umstellen. Wenn man eine Pflanze kennt, sieht man sie plötzlich überall“, sagt Markus Strauß.

 

Altbekanntes Wissen ist verloren gegangen

Die Geschichten, die der 47-jährige promovierte Geograf und Biologe zu erzählen hat, sind spannend, manchmal unglaublich, und vor allem, sie rühren bei vielen an etwas ganz Archaisches der menschlichen Seele. Strauß fasst es in diese Worte: „Der Mensch war zwei Millionen Jahre lang mehr Sammler als Jäger. Über unzählige Generationen hinweg hat er die wild wachsenden Pflanzen in der Natur geerntet und gegessen – erst in den letzten 50 Jahren ist das Wissen um die Wildpflanzen weitgehend verloren gegangen.“ Diese historische Dimension spüren die Menschen, wenn Strauß bei seinen geführten Spaziergängen Gänsefuß und Mädesüß zeigt. Er ist einer von wenigen Menschen in Deutschland, die dieses Wissen am letzten Zipfel gepackt haben, bevor es ganz verschwunden ist. Steffen Guido Fleischhauer, einer der Pioniere auf diesem Gebiet, hat in seinem Standardwerk 1000 essbare Pflanzen beschrieben.

Markus Strauß kam fast durch Zufall zu diesem Thema. Ja, sein Großvater hatte eine Gärtnerei, so dass er als Kind schon mit der Natur zu tun hatte. Strauß wuchs am Bodensee auf, im Obstland schlechthin. Und sein Doktorthema handelte vom ökologischen Teeanbau im Himalaja. Doch dann ging er in die freie Wirtschaft und arbeitete als Financial Consultant – er brauchte sechs Jahre, um zu erkennen, dass diese Welt ihm fremd war und ihn seelisch verdorren ließ.

Wenig Erfolg mit Tomate, Kartoffel &Co.

Dann zog er sich auf einen Bauernhof im Südharz zurück, wo er Kartoffeln, Bohnen und Tomaten anbaute. Trotz seiner Vorkenntnisse gab es teils schlechte Ernten – bis Strauß eines Tages entdeckte, dass an einem Platz, den er frei geräumt hatte, von selbst Giersch und Brennnesseln wuchsen: „Die Natur schenkt einem die Pflanzen einfach. Man muss sich um nichts kümmern.“

Sein Interesse war geweckt. Mühsam suchte er in Büchereien und alten Zeitschriften nach Informationen – so entwickelte er im Laufe der Jahre ein enormes Wissen über essbare Wildpflanzen. Zunächst ging es ihm nur um sich selbst: Er wollte Lebensmittel finden, die gesund sind, gut schmecken und die zudem leicht zuzubereiten sind. Doch bald spürte Strauß, dass darin mehr steckte als nur privater Zeitvertreib. Heute geht es ihm um nichts Geringeres als um die „Reintegration der Wildpflanzen in unsere Esskultur“. Die Vorteile liegen für Markus Strauß auf der Hand. Die Wildpflanzen seien die ehrlichsten Lebensmittel, sagt er, weil sie auf einem lebendigen und ausgeruhten Boden wachsen, weil sie nicht gezüchtet wurden und weil sie nicht gedüngt werden. Außerdem hätten viele Wildpflanzen viel mehr Nähr- und Vitalstoffe als üblicher Salat oder normales Gemüse. Allerdings, das fügt Markus Strauß hinzu, beruhten diese Erkenntnisse fast ganz auf den Untersuchungen einer Person – deshalb sei es unbedingt notwendig, mehr zu forschen.

Wildpflanzen sind Strauß’ Lebensthema

Strauß spricht mit großer Ernsthaftigkeit, er sieht sich als Wissenschaftler und vermeidet jeden esoterischen Touch. Er möchte das Potenzial aufzeigen, das Wildpflanzen für die ökologische Landwirtschaft böten. Und er möchte allen das Sammeln schmackhaft machen – in Büchern und bei Spaziergängen präsentiert er nicht nur die Pflanzen, sondern auch leckere Rezepte. Vor gut zwei Jahren ist er nach Stuttgart gezogen, in die Stadt, in der sein Vater aufgewachsen war. Mittlerweile bietet er in Zusammenarbeit mit der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen gar eine Ausbildung an. Die Wildpflanzen sind sein Lebensthema geworden.

Strauß erlebt fast immer ein großes Interesse an den Pflanzen – und doch schrecken viele Menschen zurück, selbst Wald und Flur zu durchstreifen. Zwei Ängste sind nach Strauß dafür verantwortlich. Erstens haben viele Angst, die Pflanzen zu verwechseln und etwas Giftiges zu essen. Markus Strauß empfiehlt, langsam anzufangen: „Ein Gänseblümchen erkennt jeder.“ Das lässt sich mit Stiel und Blüte verspeisen. Tatsächlich müsse man jedoch üben, um tiefer in die Geheimnisse der Wildpflanzen einzudringen; ein Hexenwerk sei das aber nicht. Langsam anfangen bezieht sich auch auf die Menge, denn mancher Magen muss sich erst an die neue Kost gewöhnen.

Angst vor dem Fuchsbandwurm

Zweitens fürchten viele Menschen, sich mit den Wildpflanzen etwas einzufangen, im schlimmsten Fall den Fuchsbandwurm. Markus Strauß hält die Gefahr für gering, wenn alles gründlich gewaschen wird. Im Übrigen sagt er: „Auf den Feldern, wo der Blumenkohl oder Ackersalat wächst, sind die Füchse auch unterwegs. Da sollte man sich keiner Illusion hingeben.“ Aber dann ist er schon wieder abgelenkt. Am Boden hat er junge Blütenstängel vom Breitwegerich entdeckt – die knabbert er wie einen kleinen Snack gleich weg: „Es hat ja erst kräftig geregnet. Alles in Ordnung.“