Beim Essen an Heiligabend hat jeder in der Familie seine festen Rollen. Jahr für Jahr.

Stuttgart-Degerloch - Prolog

 

Rund zwei Wochen vor dem Heiligen Abend. Die Mutter sitzt am Esstisch und wälzt Prospekte namhafter Supermärkte. Dieses Jahr wird sie sie finden, ist sie sich sicher. Die ultimative Idee, was es am Heiligen Abend zu Essen gibt. Ente, Gans, Pute – nach langem Blättern ist sie mit Vorschlägen gewappnet. Wer könnte da etwas dagegen haben, denkt sie.

Auftritt Kinder und Ehemann.

Was Sohn und Tochter essen wollen am Heiligen Abend? Ganz klar: Fondue. Der Vater? Tja, ihm würden ja auch Wienerle mit Kartoffelsalat reichen, mehr gab es früher schließlich nie. Buhrufe der Kinder. Schon gut, ihm ist es egal. Resigniert schlägt die Mutter die Prospekte zu. Dann eben Fondue. Wie immer.

1. Akt: Die Vorbereitung

Champignons, Brokkoliröschen und vier Sorten Fleisch sind in mundgerechte Stücke geschnitten, fünf Dips in unterschiedlichsten Farben aufwendig angerührt. Salat und Brot stehen auf dem Tisch. Jetzt fehlt nur noch der wichtigste Protagonist – das Fondue. Die Mutter muss auf einen Stuhl klettern, um es aus dem hintersten Eck des tiefen Einbauschranks zu angeln. Nach kurzer Anstrengung – der Vater mit knapp 1,90 Meter Körpergröße wäre auch ohne Stuhl hingekommen – ist es geschafft. Das Fondue steht auf dem Tisch.

2. Akt: Kochen für Dummies

Der Vater trägt den Brenner in die Küche, um ihn mit Spiritus zu füllen. Fünf, vier, drei, zwei, eins, ein Fluch. Man kann die Uhr danach stellen. Wie jedes Jahr hat er schwungvoll eingeschenkt, der Brenner ist übergelaufen. Die Mutter eilt zur Hilfe, tupft den Patienten mit Küchenrolle trocken, der Sohn naht mit dem Feuerzeug – überflüssiger Spiritus wird einfach weggebrannt. Die Tochter, der es an Chemie- und Physikkenntnissen stark mangelt, erleidet fast einen Herzinfarkt aus Angst vor furchtbaren Explosionen. Schließlich ist es mit vereinten Kräften geschafft, das Feuer brennt – und nur da, wo es soll.

3. Akt: Mikado im Topf – oder auf der Suche nach dem verlorenen Gemüse

Gespannt blicken alle in den Topf und warten bis das Fett erhitzt ist. Der Vater darf schließlich das erste Fleisch eintauchen. Es siedet, es kann los gehen. Gierig befüllt jeder seine Spieße, steckt sie ins Fett und dieses – völlig überfordert – kocht sofort gefährlich hoch. Die Tochter kreischt – Explosionsangst – der Vater schimpft, die Mutter reguliert die Flamme ein wenig runter, das Fett beruhigt sich. Dann beginnt das Mikadospiel. Die Spieße stammen von verschiedenen Sets aus den vergangenen Jahrzehnten. Der eine hat den verschnörkelten Spieß und den mit dem gelben Punkt, der andere hat den grünen Punkt und den von der Nachbarin und so weiter. Nach zwei Minuten sind alle Merkmale vergessen und die Spieße verknotet, es wird gekämpft um die besten Plätze im Topf, gelacht und geredet wie seit einem Jahr nicht mehr. Zwischendurch kommen leere Spieße aus dem Topf hervor, Fleisch ging verloren, Pilze schwimmen einsam im Fett umher. So geht es eineinhalb Stunden.

Epilog

Schlapp hängt die Familie am Tisch.

Ich habe zu viel gegessen, ich auch, ich auch – und ich habe extra noch Eis gekauft, klagt die Mutter. Alle lachen. Sie dachte, wir schaffen noch ein Eis, wie jedes Jahr. Die stille Müdigkeit nach dem Essen wird plötzlich von einem hellen Glöckchenton aus dem Wohnzimmer durchbrochen. Das Christkind war da. Die Essensrangelei ist vergessen. Die Familie liegt sich in den Armen. Frohe Weihnachten.