Beim traditionellen Schwörtag erhöht Jürgen Zieger den Druck auf das Kommunalparlament.

Entscheider/Institutionen : Kai Holoch (hol)

Esslingen - Es war der Tag, an dem einst der Ratschef einer Freien Reichsstadt der Bürgerschaft Rechenschaft über sein politisches Wirken ablegte. Vor rund 25 Jahren hat Esslingen die alte Tradition des Schwörtags wieder aufleben lassen. Am Freitag hat der für deutliche Worte bekannte Oberbürgermeister Jürgen Zieger die Gelegenheit genutzt, um bei hochsommerlichem Wetter im Schwörhof der Waisenhofschule sogar noch pointierter als gewohnt seine Sicht der politischen Entwicklung in der Welt, in Europa, in Deutschland und vor allem in Esslingen zu formulieren.

 

Auf kommunaler Ebene nahm er unter anderem den Gemeinderat in die Pflicht. Einstimmig habe das Gremium beschlossen, ein Sparpaket zu schnüren, um das strukturelle Defizit im Haushalt abzubauen. Jetzt, da es an die Umsetzung der vorgeschlagenen Maßnahmen – unter anderem Gebühren- und Steuererhöhungen und Abbau von Leistungen – gehe, „müssen sich alle politisch gewählten Vertreter daran messen lassen, ob es gelingt, das selbst gesteckte Ziel auch zu erreichen“.

Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten

Wann der Gemeinderat sich auf ein mehrheitsfähiges Paket verständige, „werde sich weisen“. Zieger: „Dass es ein solches geben muss, steht jedoch außer Frage.“ Zur Wahrnehmung von sozialer Verantwortung gehöre es dabei, die gesamte Bürgerschaft in seine Überlegungen einzubeziehen: „Jede andere Haltung passt nicht zum Verständnis der alten Reichsstadt, nicht zu unseren Grundwerten und wäre nur Wasser auf die Mühlen der rechtspopulistischen Kräfte in Staat und Land.“

Um den sozialen Frieden in der Stadt sichern zu könne, benötige man bezahlbaren Wohnraum. Für eine Familie mit normalem Einkommen sei es in Esslingen auf dem freien Markt aber gar nicht mehr möglich, eine Wohnung zu finden. Persönlich könne er zwar die Kritik der Anlieger der neu zu bebauenden Flächen verstehen: „Aber Gemeinderatsentscheidungen beinhalten mehr als die Summe der Einzelinteressen und haben das Gesamtwohl der Stadt im Blick.“ Und: „Die Stadt gehört nicht nur den Wohnungsbesitzenden, sondern auch den Wohnungssuchenden.“ Wer die soziale Verantwortung der Stadt ernst nehme, müsse bezahlbaren Wohnraum auch für Flüchtlinge ermöglichen und selbst in der „Klimahauptstadt Esslingen“ bereit sein, zusätzliche Flächen für Wohnungsbau zu akzeptieren.

Kritik an Bürgerausschüssen und Bürgerinitiativen

Nicht vergessen dürfe man, dass die Region wachse. Wenn das so sei, müsse auch Esslingen wachsen. Nur so lasse sich der Wohlstand der Stadt sichern. Neuer Wohnraum sei auch notwendig, um der Wirtschaft genügend Fachkräfte zur Verfügung stellen zu können. Zieger: „Ich würde mir deshalb sehr wünschen, dass Bürgerausschüsse und Bürgerinitiativen sich mehr als bisher mit dem Wirtschaftsstandort und einer nachhaltigen Finanzwirtschaft beschäftigten.“

Dass die Erwartungen der Bürgerschaft an die Politik immens seien und „auf allen politischen Ebenen mehr denn je von Befindlichkeiten und persönlichen Interessen geprägt“ seien, habe ihren Ursprung auch in weltpolitischen Strömungen. Das „Autoritäre marschiere – in Ungarn, Polen in der Türkei“. Zum ersten Mal hätten zudem in Zentraleuropa, nämlich in Österreich, rund die Hälfte der Bevölkerung für einen Rechtspopulisten gestimmt. Komme zum Erfolg von Brexit noch Donald Trump in Amerika und Le Pen in Frankreich hinzu „sieht die Welt anders aus als gegenwärtig: Düsterer, nationalistischer, autoritärer.“

In diese Richtung argumentierte auch die offizielle Schwörtagrednerin, Caroline Hornstein-Tomic, die stellvertretende Präsidentin der Bundeszentrale für politische Bildung. In Vertretung ihres Chefs Thomas Krüger beschäftigte sie sich mit dem Thema, welche Rolle die politische Bildung vor dem Hintergrund der aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen spielen kann. Der Schwörtag bildet traditionell den Auftakt zum Bürgerfest, das an diesem Wochenende in der Esslinger Innenstadt stattfindet. Einer der Höhepunkte ist am Sonntagvormittag der Citylauf.