Am Esslinger Stadtstrand entfalten sich die Künstler des Vereins Artgerechte Haltung. In ihre Arbeit binden sie unter anderem in der Nachbarschaft lebende Flüchtlinge ein.

Esslingen - Am Tisch sitzen einige Teilnehmer des Workshops von Judith Wenzelmann und arbeiten mit Drahtgitter und Gips. Seit die Künstler des Vereins Artgerechte Haltung im Februar den Container am Esslinger Stadtstrand in der Weststadt bezogen haben, der vom Stadtjugendring von Mai an bespielt wird, bietet sie jede Woche eine solche Veranstaltung an. Begonnen hat es damit, dass die Teilnehmer ihre Hand auf ein Blatt Papier legten und die Umrisse nachzeichneten. Die Gipshände, die letztlich entstanden sind, winken nun draußen dem Besucher freundlich zu.

 

„Wandel im Westen“ nennt sich das auf zwei Jahre angelegte Projekt des 2008 gegründeten Vereins, in dem rund 50 Künstler zusammengeschlossen sind, um an wechselnden Orten ihre Aktivitäten zu entfalten. Der Untertitel: „Interkulturelle künstlerische Interventionen in der Esslinger Weststadt.“ Auf dem Weg zum Stadtstrand sind links auf dem abgeräumten Güterbahnhof vier Reihen Container zu sehen, in denen seit Januar etwa 100 Flüchtlinge leben. Einige kommen gerade vom Einkaufen zurück. Andere nehmen an den Workshops der Künstler am Stadtstrand teil. Einer von ihnen ist der Syrer Mhyar, der sich gut verständigen kann, weil er in Damaskus englische Literaturwissenschaft studiert hat. In der Unterkunft ist es langweilig. Es gibt nichts zu tun.

Panzer und Hubschrauber

Die Wand hängt voller Zettel, wie ein schwarzes Brett. Aber es sind keine Anzeigen, sondern Zeichnungen. Länderumrisse sind zu sehen: Nigeria, Afghanistan und Algerien als Teil des afrikanischen Kontinents. Viele haben Häuser gezeichnet, wie sie in dem Land, der Region, aus der sie stammen, gebaut werden. Oder die Kuppel einer Moschee. Gefragt, ob er den Text in arabischer Schrift neben dem Bild eines Vogels übersetzen könne, sagt Mhyar, die Schrift sei zwar arabisch, aber nicht die Sprache. „Esslingen, Landkreis Kanaan“ steht auf einem Papier. „Ich verstehe, du verstehst, er versteht, ich gehe“, dekliniert ein Teilnehmer. Ein anderer hat einen Panzer und einen Hubschrauber gezeichnet.

Albrecht Weckmann hat die anwesenden Flüchtlinge ermuntert, etwas zu ihrer Heimat zu Papier zu bringen, indem er sich einfach an den Rand gesetzt und selbst zu zeichnen begonnen hat. Für ihn ist weniger wichtig, seine Bilder hübsch ordentlich gerahmt in einer Galerie zum Verkauf anzubieten, es geht ihm um eine Auseinandersetzung mit seiner Umgebung.

Projektarbeiten an verschiedenen Standorten

Das ist auch das Ziel des gesamten Projekts: eben den Wandel in der Esslinger Weststadt aus der Nähe zu verfolgen. Bisher sind neben ein paar Bewohnern der Weststadt und einigen Studenten aus dem neuen Studentenheim vor allem Flüchtlinge gekommen. Aber das wird sich bald ändern, wenn der Stadtstrand an diesem Samstag um 16 Uhr mit einem „Tanz in den Mai“, einem internationalen Nachbarschaftsfest wieder öffnet. Nicht alle an dem Projekt beteiligten Künstler arbeiten am dort. Wolfgang Scherieble bereitet mit fünfzehn weiteren Künstlern eine Ausstellung am Bauzaun längs der Fleischmannstraße vor, Jürgen Niederer einen Blog. Angela Hildebrandt möchte den Sommer über als kritische Flaneurin durch die Weststadt führen. Bodo Nassal will sein Atelier im Schlachthofareal einmal im Monat für Kunst- und Musikveranstaltungen öffnen. Und in der Nähe des Bahnhofs soll – einem Raumschiff nicht unähnlich – ein großes, begehbares Objekt landen.

Mamou stammt aus Gambia. Seit einem Jahr und vier Monaten in Esslingen, nimmt er an Theaterprojekten der United Unicorns & Stage Divers(e) teil. Er lebt nicht in der Unterkunft in der Weststadt, stellt aber als Asylbewerber im Bundesfreiwilligendienst den Kontakt zur Flüchtlingsunterkunft her, in der viele Gambier leben.