Von der Steuererklärung, die online in zehn Minuten erledigt ist, bis zur Regierungswahl, bei der man im Netz bereits einen Tag vor dem Wahltag seine Stimme abgeben kann: Estland ist ein Vorreiter der Digitalisierung.

Freizeit & Unterhaltung : Ingmar Volkmann (ivo)

Stuttgart - Estland gilt als das Silicon Valley Europas: Das Land, das mit seinen gerade mal 1,3 Millionen Einwohnern deutlich kleiner ist als Baden-Württemberg, inspiriert andere Staaten, wenn es um das Thema Digitalisierung geht. Zwei Beispiele: 2005 organisierte das Land die erste digitale Regierungswahl unter dem Stichwort E-Government. Alle Wahlberechtigten konnten ihre Stimme bereits einen Tag vor der eigentlichen Wahl online abgeben. Sicherheitsprobleme gab es keine. Außerdem konnte der Rückgang bei der Wahlbeteiligung gestoppt werden.

 

Beispiel Nummer zwei: In Estland gibt es ein E-Gesundheitssystem. Jede Krankenakte ist digitalisiert, jeder Patient kann immer und überall online alle Daten einsehen. Wenn man den Arzt wechselt, fängt der nicht wieder bei Null an, sondern hat alle relevanten Daten auf Knopfdruck vorliegen. Rezepte in der Apotheke gibt es über die E-Versichertenkarte, auf der alle wichtigen Daten gespeichert sind.

Steuererklärung in zehn Minuten? Ein Raunen geht durch den Saal

In Deutschland, dem Land der Skepsis und des Datenschutzes, klingen die beiden Beispiele vielleicht ein wenig wie aus dem Gruselkabinett des Überwachungsstaates. Aus estnischer Sicht überzeugt die Digitalisierung aber auf allen Ebenen. Eine der wichtigsten Botschafterinnen des Landes in dieser Sache ist Kristiina Omri, an der Estnischen Botschaft in Berlin als Wirtschafts- und Handelsdiplomatin tätig. Bei ihrem Vortrag „Lernen von den Besten: Estland – der digitale Trendsetter in Europa“ beim Kongress „Stadt der Zukunft“, der von der Stuttgarter Zeitung veranstaltet wird, hatte sie spätestens an der Stelle alle Zuhörer auf ihrer Seite, als sie erklärte, dass die Steuererklärung in Estland in zehn Minuten erledigt sei – natürlich auf digitalem Wege. Ein ungläubiges Raunen ging durch den Saal. Das System sei einfacher und kenne weniger Ausnahmen, führe aber dennoch zu höheren Steuereinnahmen und gelte als eines der effektivsten weltweit, sagte Omri. Das Raunen wurde noch lauter.

Um zu verstehen, wieso Estland heute ein digitaler Schrittmacher in Europa ist, muss man in der Geschichte ein Stück zurückgehen, in die 90er Jahre. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte Estland, das kulturell eigentlich eng mit Finnland verbunden ist, die Möglichkeit, gesellschaftspolitisch und technisch ganz von vorne anzufangen. Oder, wie es Kristiina Omri formuliert: „Wir hatten keine Geschichte als Last, sondern einen starken Willen in der Bevölkerung, so schnell wie möglich bei den neuesten Technologien initiativ zu werden.“

Zahlreiche Delegationen aus Deutschland besuchen den „digitalen Zoo“ in Estland

Im Projekt Tigersprung erhielten so zum Beispiel bereits im Jahr 1997 alle Schulen einen Internetanschluss. 2001 wurde die sogenannte X-Road eingerichtet als technische Basis der schnellen Datenübertragung für das estische E-System, in dem mittlerweile fast alle Lebensbereiche digitalisiert sind.

In Deutschland würde sie natürlich ständig mit dem Thema Datenschutz konfrontiert, sagte Omri. „Selbstverständlich gibt es keine 100-prozentige Sicherheit, warum soll es aber sicherer sein, bei einer Wahl die Stimme per Post zu schicken?“, fragte Omri. Außerdem verfüge man in Estland mittlerweile über 15 Jahre Erfahrung im Bereich der digitalen Sicherheit. „Dass Estland eine Datenschutzwüste ist, stimmt nicht. Durch die Digitalisierung haben wir eine höhere Ebene des Datenschutzes erreicht“, sagte Omri weiter.

Trotz der Skepsis, die Estland gerade aus Deutschland erfährt, erfreut sich der kleine Baltikum-Staat hierzulande großer Beliebtheit, wenn es darum geht, sich digitale Entwicklungen an- und abzuschauen. Kristiina Omri berichtet jedenfalls von einem „digitalen Showroom in Estland, der pro Jahr von mehr als 30 Delegationen aus Deutschland besucht wird“. Manchmal, sagt sie, „kommt es mir so vor, als würden wir im digitalen Zoo leben.“