Mehr als eine Million Menschen wenden sich gegen EU-Pläne, die öffentliche Wasserversorgung zu liberalisieren. Mit diesen Unterschriften hat das Volksbegehren schon eine hohe Hürde genommen.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Berlin - Europäische Politik findet neuerdings nicht nur in Straßburg und Brüssel statt, sondern auch im virtuellen Raum. Via Internet haben bis Aschermittwoch 1 075 356 Bürger von EU-Staaten ihren Protest gegen ein Vorhaben der Europäischen Kommission bekundet, das einen elementaren Anspruch jedes Einzelnen betrifft: die öffentliche Wasserversorgung. Brüssel will diesen Sektor noch stärker liberalisieren. Viele sehen darin die Gefahren inflationärer Wasserpreise und einer aus Rentabilitätsgründen vernachlässigten Infrastruktur. Dafür gibt es durchaus Beispiele.

 

Die Europäische Bürgerinitiative „Right 2 Water“ wolle den „Schritt zur Praxis der transnationalen Demokratie“ vollziehen, sagen Unterstützer. Die erste Hürde auf dem Weg zum politischen Erfolg ist überwunden.

„Europäische Bürgerinitiative“ – was ist das überhaupt?

Seit Februar 2011 ist dieses politische Instrument, eine Art Plebiszit auf europäischer Ebene, gültiges Recht innerhalb der EU. Wenn insgesamt eine Million Menschen aus mindestens sieben EU-Staaten ein Anliegen unterstützen, können sie sich damit direkt an die EU-Kommission wenden. Es muss sich dabei allerdings um ein Thema handeln, für das die EU zuständig ist. Dazu zählen die Bereiche Umwelt, Landwirtschaft und Verkehr. Bis jetzt sind die erforderlichen Quoren für die Wasserinitiative in Deutschland, Österreich und Belgien erreicht. In Slowenien und der Slowakei könnten die jeweils nötigen Landesmarken bald geknackt werden. Bis Oktober können Interessenten unterschreiben.

Alle EU-Bürger, die das Wahlalter erreicht haben, können eine solche Bürgerinitiative starten. Sie müssen zunächst Bürgerausschüsse in den Staaten gründen, in denen sie Stimmen sammeln wollen. Alle aktuellen EU-weiten Bürgerinitiativen sind im Internet registriert (http://ec.europa.eu/citizens-initiative). Im Moment sind es neben der Wasser-Initiative 13 weitere. Die EU stellt Open-Source-Software für Initiativen bereit. Unterschriften können auch online gesammelt werden. Jede Initiative muss offen legen, wie sie sich finanziert.

Worum geht es bei der Initiative „Right 2 Water“?

Das europaweite Plebiszit fordert ein „Menschenrecht auf Wasser und sanitäre Grundversorgung“. Es verwahrt sich gegen eine weitere Liberalisierung der öffentlichen Wasserversorgung. Negative Folgen werden vor allem von der so genannten Konzessionsrichtlinie der EU-Kommission erwartet, über die das Europäische Parlament im April abstimmen soll. Das Gesetz stellt erstmals gemeinsame Regeln auf, wann und wie Konzessionen für öffentliche Dienstleistungen – wie etwa die Wasserwirtschaft – ausgeschrieben werden müssen.

Warum ist dieses Anliegen so brisant?

In Deutschland befindet sich die Wasserversorgung zu großen Teilen in kommunaler Verantwortung. Dahinter steckt die Überlegung, dass sich private Unternehmen, die für eine befristete Zeit eine Konzession erwerben, wohl nicht in gleichem Maße um die Pflege und den Ausbau der Infrastruktur kümmern. Das würde Investitionen voraussetzen, die sich allenfalls langfristig rentieren. „Die EU-Institutionen greifen ohne Not in ein funktionierendes System ein“, beklagt der Verband kommunaler Unternehmen. Ähnlich argumentiert der Städtetag: „Die kommunale Wasserwirtschaft in Deutschland sichert eine hohe Qualität des Trinkwassers zu bezahlbaren Preisen und investiert nachhaltig in die Infrastruktur.“ Von den EU-Plänen sei zu erwarten, „dass sie der Privatisierung im Wasserbereich Tür und Tor öffnen mit negativen Folgen für die Bevölkerung“. Auch Qualitätseinbußen beim Trinkwasser seien nicht auszuschließen – als Folge eines vernachlässigten Rohrleitungssystems.

Andernorts sind diese Schreckensszenarien schon Realität. Zum Beispiel in London. Dort wurde die Wasserversorgung schon in den 1980er Jahren privatisiert. Die neuen Betreiber sparten sich Investitionen in die Infrastruktur. Inzwischen ist das Rohrnetz marode. Ein großer Teil des aufbereiteten Trinkwassers versickert, immer wieder kommt es zu Versorgungsengpässen. Darüber hinaus garantiert eine Privatisierung keineswegs günstigere Preise. Das zeigt das Beispiel Berlin. Dort zogen die Wassergebühren erheblich an, nachdem private Investoren eingestiegen waren. Jetzt will der Senat die privatisierten Anteile wieder zurückkaufen.

Wer steckt hinter der Protestbewegung?

Die Initiative „Right 2 Water“ wird vor allem von Gewerkschaften und Umweltverbänden unterstützt. Der Repräsentant des deutschen Bürgerausschusses ist Frank Bsirske, Chef der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Die Aktion wird von der European Federation of Public Service Unions mit 100 000 Euro gesponsert – einem Verband, der acht Millionen Beschäftigte öffentlicher Unternehmen vertritt.

Was kann das Bürgerbegehren letzten Endes bewirken?

Wenn offiziell bestätigt ist, dass genug Unterschriften vorliegen, muss die EU-Kommission binnen drei Monaten zu dem Anliegen Stellung nehmen. In diesem Fall müsste sie entscheiden, ob sie ihre Richtlinie zurückzieht. „Niemand sollte in Europa die Rechnung ohne die Bürger machen“, warnt der baden-württembergische EU-Parlamentarier Peter Simon (SPD). „Mit jeder neuen Unterschrift wächst der Druck auf die Kommission und das Europäische Parlament, aber auch auf die Bundesregierung.“ Letztere hatte den umstrittenen Richtlinienentwurf auf europäischer Ebene bisher stets unterstützt. Simon hatte unlängst versucht, die Norm im Binnenmarktausschuss des EU-Parlaments zu Fall zu bringen, war aber an der bürgerlichen Mehrheit gescheitert.

Welche weiteren Bürgerinitiativen sind aktuell im Gange?

Für neun der insgesamt 14 registrierten Initiativen werden auch in Deutschland Unterschriften gesammelt. Dabei geht es unter anderem um ein bedingungsloses Grundeinkommen (bisher 18 282 Unterstützer) und europaweit einheitliche Handytarife ohne Roaminggebühren.