Halbherzig, unwirksam und viel zu spät: hart geht die EU-Kommission mit den Maßnahmen Deutschlands zur Luftreinhaltung ins Gericht. Nun hat sie ein „letztes Mahnschreiben“ nach Berlin geschickt. Es sollte eigentlich unter Verschluss bleiben.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart / Brüssel - Die Pressemitteilung aus Brüssel fand in den Medien wenig Beachtung. Man habe im Kampf für saubere Luft „ein letztes Mahnschreiben“ an Deutschland und weitere Länder gerichtet, meldete die EU-Kommission Mitte Februar. Wenn dort nicht endlich die schon seit 2010 geltenden Grenzwerte für Stickstoffdioxid (NO2) eingehalten würden, drohe eine Klage vor dem Gerichtshof der Europäischen Union. Jährlich gingen in der EU 400 000 vorzeitige Todesfälle auf das Konto der hohen Luftverschmutzung. Nötig seien „deutlich mehr Anstrengungen“, mahnte die Kommission, um diesen Missstand „schnellstmöglich zu beenden“. Binnen zwei Monaten erwarte man einen Plan mit Abhilfemaßnahmen – vorneweg von Deutschland, das mit 28 betroffenen Gebieten die Sünderliste anführt.

 

Was aber steht genau in dem Drohbrief an die Bundesregierung? Das wollten Umweltschützer aus Stuttgart wissen, wo die Debatte um saubere Luft heftiger tobt als irgendwo anders in Deutschland. Die erwogenen Dieselfahrverbote begründet die Landesregierung schließlich auch mit dem laufenden EU-Vertragsverletzungsverfahren. Doch mit dem Antrag auf Offenlegung des Schreibens hatte der langjährige Koordinator des Klima- und Umweltbündnisses (KUS), Kurt Henzler, bisher keinen Erfolg. Seit’ an Seit’ wehrten sich das Bundesumweltministerium und die EU-Generaldirektion Umwelt gegen die Herausgabe.

„Erhebliche Störung der internationalen Beziehungen“

Ihre weitgehend inhaltsgleiche Begründung klang so, als würde dadurch eine kleine Staatskrise ausgelöst. Ziel des laufenden Verfahrens sei es, dass EU-Kommission und Mitgliedstaat gemeinsam eine rechtskonforme Lösung fänden. Dies sei gefährdet, „wenn Dritte Zugang zu den Dokumenten . . . erhielten“. Keiner der Beteiligten könne dann mehr „auf die Vertraulichkeit des Behördenverkehrs vertrauen, was eine erhebliche Störung der internationalen Beziehungen zur Folge haben könnte“. Das „Klima des Vertrauens“ zwischen Berlin und Brüssel wäre gefährdet, eine einvernehmliche Einigung erschwert, warnten Bundesregierung und Kommission unisono. Diese „nachteiligen Auswirkungen“ wögen schwerer als das öffentliche Interesse an Transparenz. Henzler gibt sich damit nicht zufrieden, bei beiden Stellen hat er Widerspruch eingelegt. Die Entscheidung darüber steht noch aus.

Nun aber ist das sorgsam gehütete Schreiben doch an die Öffentlichkeit gelangt und liegt der Stuttgarter Zeitung vor. Auf 40 Seiten dokumentiert es, wie Deutschland bei der Luftreinhaltung auf Zeit spielt – und wie Brüssel zunehmend die Geduld verliert. Immer wieder fühlte sich die EU-Kommission vertröstet und hingehalten, immer wieder beklagte sie halbherzige Ansätze, nun will sie endlich überzeugende Taten sehen. Geradezu ultimativ verlangt sie, die NO2-Werte jetzt rasch wirksam zu senken – gerade beim Diesel, gerade im Ballungsraum Stuttgart. Dort, wird wiederholt hervorgehoben, sei der Problemdruck besonders hoch.

Mehr als zehn Jahre Zeit zum Handeln gehabt

Seit Jahren, rügt Brüssel, bemühe sich Deutschland nicht genug um die Einhaltung der Grenzwerte für Stickstoffdioxid. Regelmäßig verstoße es gegen die seit 2008 geltende Richtlinie für saubere Luft, mit der die Werte 2010 verbindlich wurden. Besonders massiv werde das Jahreslimit in Stuttgart und München übertroffen, um mehr als das Doppelte; beide Ballungsräume rissen wiederholt auch den Tagesgrenzwert. Dabei habe es eine lange Vorwarnzeit gegeben: seit 1999 sollte die Überschreitung jedes Jahr etwas reduziert werden, um das Ziel nach und nach zu erreichen. Somit habe die Bundesrepublik „mindestens zehn Jahre Zeit“ zum Handeln gehabt.

Doch nicht nur in der Vergangenheit habe Deutschland zu wenig getan – auch für die Zukunft plane es zu wenig. Die vorgelegten Luftreinhaltepläne ließen den nötigen Ehrgeiz vermissen, wiederum besonders in Stuttgart und München: Dort sollen die Grenzwerte erst 2030 oder danach erreicht werden; weitere 15 Gebiete planten das ebenfalls erst nach dem Jahr 2020. In dieser Verzögerung von zehn und mehr Jahren sieht die EU-Kommission ein „gewichtiges Indiz dafür, dass Deutschland keine geeigneten Maßnahmen getroffen“ habe. Berlin widerspreche zwar, dieser Schluss könne „auf keinen Fall“ aus der Dauerüberschreitung gezogen werden; bis 2020 habe Brüssel selbst Nachsicht signalisiert. Doch das lässt die Kommission nicht gelten. Jedes Land könne zwar selbst über den Weg zum Ziel entscheiden. Je „gravierender die Lage“ aber sei, „desto mehr reduziert sich der Ermessensspielraum der Behörden des Mitgliedstaates bei der Wahl der geeigneten Maßnahmen“.

Der Diesel ist vorrangig im Visier von Brüssel

Wo vorrangig angesetzt werden müsse, steht klipp und klar in dem Brief aus Brüssel: beim Diesel mit seinem hohen Stickoxidausstoß. Geboten sei entweder „eine weitere Verringerung des Verkehrsaufkommens im Allgemeinen“ oder „Zugangsbeschränkungen“ vor allem für Dieselfahrzeuge. Auch deutsche Verwaltungsgerichte forderten „schärfere und restriktivere Maßnahmen“. Bisher enthielten die Luftreinhaltepläne indes nur „eine Kombination von weniger zielgerichteten oder zu wenigen Maßnahmen“ – wie den Ausbau von Park-and-ride-Plätzen oder die Modernisierung von Busflotten. Deren Gesamteffekt entspreche nicht der „Schwere der Situation“.

Bis Mitte April sollte Deutschland in einer Stellungnahme darlegen, was man zu tun gedenke. Die Frist sei auf Antrag Berlins bis Mitte Mai verlängert worden, sagte ein Kommissionssprecher unserer Zeitung. Kurz vor deren Ablauf habe man die Antwort inzwischen erhalten. Zum Inhalt lasse sich noch nichts sagen, er solle erst einmal „eingehend analysiert“ werden.