Wenn der Strompreis nicht sinkt, droht Deutschland die Deindustrialisierung – sagt EU-Energiekommissar Günther Oettinger.

Stuttgart - Die nüchternen Zahlen sprechen eine klare Sprache. Dem jüngsten Vergleich der europäischen Statistikbehörde Eurostat zufolge sind die deutschen Energiepreise spitze. 22 Cent zahlen die Verbraucher durchschnittlich für die Kilowattstunde Strom - nur in Dänemark müssen sie dafür mehr ausgeben, mit 28 Cent sogar noch deutlich mehr.

 

In Großbritannien oder Frankreich kommen die Kunden mit 16 beziehungsweise zwölf Cent deutlich günstiger weg. Das liegt auch an den in der Bundesrepublik höheren Steuern und Abgaben.

Wenn nun der EU-Energiekommissar Günther Oettinger mit Verweis auf diese Zahlen eine "Deindustrialisierung" Deutschlands als Schreckgespenst an die Wand malt, ist das jedoch nur die halbe Wahrheit.

Das Eurostat-Jahrbuch weist nämlich eigens die Strompreise für die Industrie aus - und die liegen im Regelfall unter denen für die Privatkunden. Die 14 Cent pro Kilowattstunde, die die deutsche Wirtschaft bezahlt, liegen nur einen Cent über dem Durchschnitt in der Eurozone. Unter allen EU-Mitgliedstaaten rangiert Deutschland damit auf Platz 7.

Oettinger für Abschaffung der Brennelementesteuer

Noch nicht berücksichtigt ist dabei die von der Bundesregierung neu eingeführte Brennelementesteuer für Atomkraftwerksbetreiber, was die Kosten für die Energieversorger erhöhen wird, die diese vermutlich an ihre Kunden weitergeben werden. Damit könnte Deutschland in der Negativrangliste tatsächlich nach oben rücken. Schon jetzt seien 48 Prozent des deutschen Strompreises "politikgetrieben", argumentiert Oettinger.

Er fordert daher nach dem überraschenden Schwenk der schwarz-gelben Koalition Richtung Atomausstieg ein Aus für die Brennelementesteuer, die noch vergangenen Herbst als vermeintliche Gegenleistung der Kernkraftbranche für die damals beschlossene Laufzeitverlängerung eingeführt worden war.

Berlin vertritt den Standpunkt, die Steuer sei ausdrücklich nicht an längere Laufzeiten gekoppelt, sondern solle teils die Kosten für die Atommülllagerung abdecken.

Hohe Belastung schwächt Investitionspotenzial

Baden-Württembergs Exministerpräsident folgt damit der Linie, die auch die Energieriesen vor Gericht vertreten. Die EnBW etwa rechnet mit Kosten von etwa 440 Millionen Euro im Jahr, die nicht in den Ausbau erneuerbarer Energien fließen könnten.

Oettinger, der beim Ausbau der europäischen Energieinfrastruktur für die vielen geplanten Offshorewindanlagen und Solarparks in der Wüste vor allem auf die Privatwirtschaft setzt, sieht mit der höheren Belastung deren Investitionspotenzial geschwächt. Eine Billion Euro muss der EU-Kommission zufolge bis 2020 in den Energiesektor fließen, sonst sei es "unwahrscheinlich", die bis dahin gesetzten Klimaziele zu erreichen.

Die Europäische Investitionsbank sowie der in der neuen EU-Finanzplanung 2014 bis 2020 vorgesehene Infrastrukturfonds können hier nur eine Anschubfinanzierung leisten. Einzig diese Investitionen, so Oettinger, rechtfertigten höhere Strompreise, da sie doch den Industriestandort und den sozialen Zusammenhalt bedrohten. Zumal bei deren Senkung über mehr Wettbewerb kein Land in Sicht ist.

Trennung von Stromproduktion und Netzbetrieb nicht überall umgesetzt

Weiter fehlt es an Verbindungsleitungen, damit Kunden von günstigeren Tarifen im europäischen Ausland profitieren können. Noch sind Wettbewerber von dort kaum präsent. Die Trennung von Stromproduktion und Netzbetrieb, von der die EU-Kommission mittelfristig eine Entlastung der Kunden erwartet, ist nicht überall umgesetzt - obwohl das Gesetz im März in Kraft trat.

Deutschland hat Anfang August im Rahmen der Energiewendegesetze die Vorgaben erfüllt, auf andere Staaten warten Vertragsverletzungsverfahren. Noch aber liegt das von den Staats- und Regierungschefs ausgegebene Ziel, 2014 den Energiebinnenmarkt zu vollenden, in weiter Ferne.