Vier gefährliche Täter sind zu Unrecht eingesperrt geblieben. Das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden.

Straßburg - Er missbrauchte beide Töchter seiner Freundin über Jahre hinweg, die jüngere, zu Beginn siebenjährige Tochter wöchentlich. Später kam es auch zu Vergewaltigungen. Das war in den Jahren zwischen 1980 und 1993. Weil die Opfer erst viel später aussagten, wurde er 1999 verurteilt. Die meisten Taten waren bereits verjährt, andere Verfahren wurden eingestellt. Wegen zwei Vergewaltigungen und mehreren Fällen des Missbrauchs von Kindern wurde er schließlich verurteilt. Die Strafe lautete auf dreieinhalb Jahre Haft. Ihm war verminderte Schuldfähigkeit zugebilligt worden. Sicherungsverwahrung war nach dem damaligen Recht nicht möglich. Seine Strafe hatte er 2002 vollständig verbüßt.

Die nachträgliche Verwahrung gibt es inzwischen nicht mehr


Inzwischen war in Deutschland die nachträgliche Sicherungsverwahrung Gesetz geworden, die auch rückwirkend verhängt werden konnte. Er war der Erste, gegen den, damals noch nach bayerischem Landesrecht, die nachträgliche Sicherungsverwahrung verhängt worden ist. Das Bundesverfassungsgericht erklärte 2004 das bayerische Gesetz für verfassungswidrig, eine knappe Mehrheit der Richter billigte wegen der besonderen Gefährlichkeit des Täters aber dennoch die Fortsetzung der Sicherungshaft. Der Mann wurde später in der psychiatrischen Abteilung eines Altersheims untergebracht, wo er erneut - diesmal demente - Frauen sexuell belästigte. Danach kam er in die Psychiatrie. Inzwischen gilt ein Hirnschaden, den er als Jugendlicher bei einem Unfall erlitten hatte, als Auslöser für seine Taten. Das war schon bei seiner Verurteilung bekannt. Das Gericht sah damals aber von der Einweisung in die Psychiatrie ab, weil es den Täter, wenn auch vermindert, für schuldfähig hielt.

Am Donnerstag hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg entschieden, dass die Verhängung der Sicherungsverwahrung gegen den inzwischen 76-Jährigen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt. Sein Recht auf Freiheit sei verletzt, weil es "keinen ausreichenden Kausalzusammenhang" zwischen seiner Verurteilung und der späteren Sicherungsverwahrung gebe. Ein Wegsperren zu Präventionszwecken sei nicht erlaubt. Ähnliche Entscheidungen trafen die Straßburger Richter auch in drei weiteren Fällen.

Bereits vor einem Jahre hatte das Straßburger Gericht die Bundesrepublik wegen der Praxis der deutschen Sicherungsverwahrung verurteilt. Das hatte Folgen: Mehrere Gewalttäter, die von den deutschen Behörden nach wie vor als gefährlich eingestuft werden, wurden freigelassen. Einzelne werden seitdem rund um die Uhr von der Polizei überwacht. Wurden die Aufenthaltsorte bekannt, kam es zu Protesten von Anwohnern.

Die Gerichte urteilten unterschiedlich. Einige folgten den Straßburger Vorgaben. Die werden jetzt von Straßburg gelobt. Andere versuchten, sich zu widersetzen. Deutsche Juristen argumentieren in solchen Fällen, bei den Straßburger Urteilen handele es sich stets um Einzelfallentscheidungen. Dem widersprechen die Straßburger jetzt. Auch die Senate des Bundesgerichtshofs sind in dieser Frage uneins. Beim Bundesverfassungsgericht stehen mehrere Beschwerden zur Entscheidung an.

Die Rechtslage ist kompliziert. Einerseits hat die Bundesrepublik sich vertraglich verpflichtet, die Straßburger Urteile umzusetzen, andererseits hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die Urteile des Straßburger Gerichts, anders als die des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg von deutschen Gerichten nur zu berücksichtigen sind, will heißen, im Normalfall befolgt werden müssen, in Ausnahmefällen aber eben möglicherweise auch einmal nicht.

Der Bundestag hat das Gesetz nach dem Straßburger Urteil geändert


Der Bundestag hat inzwischen Konsequenzen gezogen. Seit Jahresbeginn ist die Sicherungsverwahrung neu geregelt. Zum einen darf sie, anders als bisher, nur noch in Fällen schwerer Gewaltkriminalität verhängt werden. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung wurde wieder abgeschafft. An ihre Stelle ist die Androhung der Sicherungsverwahrung "unter Vorbehalt" bereits im Strafurteil getreten. Schließlich wird endlich versucht, die Ausgestaltung der Sicherungsverwahrung erträglicher zu gestalten als die Strafhaft und insbesondere die Bemühungen einer Resozialisierung zu verstärken.

Die Gesetzesänderungen regeln aber nicht die "Altfälle". Die entscheidende Frage ist, was nach den Straßburger Urteilen mit jenen Tätern geschehen soll, die bereits seit Jahren, manchmal seit Jahrzehnten in der Sicherungsverwahrung festgehalten werden und noch immer als besonders gefährlich gelten. Es geht dabei um kaum mehr als 20 Personen.

Die Sicherungsverwahrung war Ende 1933 von den Nationalsozialisten in Deutschland gegen "gefährliche Gewohnheitsverbrecher" eingeführt worden. Sie widerspricht dem ehernen Prinzip, dass in einem Rechtsstaat Haft nur als eine angemessene Strafe für bereits begangene Straftaten angeordnet werden darf. Dennoch wurde die Sicherungsverwahrung nach dem Ende des Naziregimes nicht abgeschafft. Sie wurde in der Bundesrepublik jahrzehntelang nicht nur gegen Gewalttäter, sondern auch gegen rückfällig gewordene Diebe verhängt. Es waren vor allem die kleineren, armen und unbedarften Täter, die keinen guten Anwalt hatten, denen Richter Jahr für Jahr ohne genauere Prüfung bescheinigten, es könne noch nicht verantwortet werden, sie in Freiheit zu entlassen. Erst das Bundesverfassungsgericht hatte einst nach vielen Jahren einen Mann aus der Verwahrung geholt, der lediglich wegen des Diebstahls eines Mantels verurteilt worden war. Formal war dies bis Ende vergangenen Jahres möglich, aber in der Praxis sehr selten geworden.

Dagegen wurden die Regeln für Gewalt- und insbesondere Sexualtäter in den vergangenen Jahren immer weiter verschärft. So wurde die einst gültige Obergrenze von zehn Jahren aufgehoben, es bedurfte auch nicht mehr eines mehrfachen Rückfalls, um in Sicherungsverwahrung untergebracht werden zu können. Schließlich wurde die nachträgliche Sicherungsverwahrung eingeführt, die auch rückwirkend gegen Menschen verhängt werden konnte, die ihre einst maximal zulässigen zehn Jahre abgesessen hatten. Die Zahl der Verwahrten verdoppelte sich seit 2001 auf inzwischen 500.

Ursachen für die ständigen Verschärfungen, aber auch für die immer häufigere Anordnung der Sicherungsverwahrung waren spektakuläre Einzelfälle schlimmer Verbrechen, aber auch eine wachsende Emotionalisierung der Öffentlichkeit, die von einigen Medien geschürt worden ist. Objektiv sind die Zahlen der einschlägigen Verbrechen nicht gestiegen.