Seit 1. April können eine Million Unterschriften die EU-Gesetzgebung beeinflussen. Anhänger der direkten Demokratie sehen Chancen, die Gegner sind skeptisch.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Brüssel - Die Initiative für den freien Zugang zu Wasser macht am Sonntag den Auftakt: Eine Million Unterschriften aus mindestens sieben Mitgliedstaaten müssen die Gewerkschaften des öffentlichen Diensts für die erste Europäische Bürgerinitiative (ECI) sammeln. Gelingt dies binnen eines Jahres, muss die EU-Kommission sich die Argumente anhören und erklären, ob sie eine entsprechende Gesetzesinitiative anstößt.

 

Europa wird schon lange als zu bürgerfern und undemokratisch kritisiert. Als Schritt hin zu mehr europäischer Demokratie stand die Europäische Bürgerinitiative bereits im EU-Verfassungsentwurf und schaffte es im Jahr 2007 auch in den ersatzweise aufgesetzten Lissabon-Vertrag. Insgesamt dauerte die Umsetzung mehr als zehn Jahre. Direkte Demokratie bleibt damit dennoch aber eher Wunschdenken: Das Verfahren bleibt weiter in den Händen der EU-Institutionen. Unterschriften können keine Gesetze erzwingen. Dafür ist das nötige Quorum von 0,2 Prozent aller Europäer ohnehin zu gering.

Vielmehr geht es bei der „Europäischen Bürgerinitiative“ um eine Art „partizipative Demokratie“. Die wurde bereits von Gruppen wie Greenpeace oder Eliant ausprobiert – sie sammelten auch ohne den gemeinsamen Rahmen der Europäischen Bürgerinitiative europaweit eine Million Unterschriften für ihre Sache, wenn auch bislang ohne konkrete Folgen (siehe Interview). Künftig kann sich jeder Bürger mit einer Europäischen Bürgerinitiative regulär in den EU-Gesetzgebungsprozess einbringen.

Brüssel erhofft sich Anregungen für neue Politikinitiativen; verschiedenste Gruppierungen sehen die Chance, politischen Druck ausüben zu können. Demokratietheoretisch hofft die EU-Kommission auf europaweite Debatten und eine Art EU-politischen Gemeinschaftssinn – als Gegenmodell zu einem in der jüngeren Vergangenheit zu beobachtenden Rückzug in nationalstaatliche Grenzen.

Wie schwer ist es, eine Millionen Unterschriften zu sammeln?

Dies sei „eine Frage von Tagen“, sagte unlängst der zuständige EU-Kommissar Maros Sefcovic. Er spielte auf die neuen Möglichkeiten durch Online-Netzwerke wie Facebook an. Dort hatten sich etwa bei den Protesten gegen Acta oder im Arabischen Frühling Hunderttausende vernetzt. „Dennoch befürchten wir, dass nur große, zahlungskräftige Gruppen die Million zusammenkriegen“, sagt Kim Smouter vom Netzwerk Enna, das kleinere zivilgesellschaftliche Gruppen in Brüssel vertritt. Online-Unterschriften sind allerdings leichter und günstiger zu sammeln als solche auf Papier. Sie erfordern weniger gedruckte Informationsmaterialien und weniger Personal. Dies könnte eine Chance für kleinere Gruppen sein, deren finanzielle Mittel beschränkt sind.

Wie werden die Unterschriften gesammelt?

Es reicht nicht, bei Facebook einfach nur auf „Gefällt mir“ zu klicken. Unterstützer für eine – wie sie meinen gute – Sache müssen sich auf Papier oder mit Hilfe eines von der EU-Kommission bereitgestellten Internetprogramms erklären. Gelebte Demokratie ist auch bei der Europäischen Bürgerinitiative mehr als ein Mausklick.

Welche Regeln gelten?

Das bestimmen die Mitgliedstaaten. Sie haben aber zum Teil noch nicht einmal die nötigen Gesetze erlassen. Eine weitere Hürde sind uneinheitliche Anforderungen: in Nordeuropa sind die Vorschriften lockerer als in Südeuropa, wo Unterzeichner die Personalausweisnummer angeben müssen. Die Staaten sind auch dafür zuständig, die Unterschriften zu überprüfen. Teilweise wollen sie hierfür Privatfirmen engagieren. Für die Initiativen könnte das die Kosten einer Initiative verteuern.

Was kann eine erfolgreiche Initiative bewirken?

Vorgeschrieben ist eine öffentliche Anhörung. Danach entscheidet die EU-Kommission, ob sie ein entsprechendes Gesetz vorschlägt oder nicht. Die Initiative darf aber nicht gegen „EU-Werte“ verstoßen und jeder Gesetzesvorschlag durchläuft den üblichen, langwierigen Prozess im Ministerrat sowie im EU-Parlament. Kritiker bezeichnen die Europäische Bürgerinitiative daher als zahnlosen Tiger. Andere argumentieren, anhaltender öffentlicher Druck zwinge die EU-Institutionen, dann auch im Sinne der Initiative zu handeln.

Wird eine Flut von Initiativen geben?

Internetpetitionen kommen hierzulande teils auf mehr als 100 000 Unterzeichner. Gut möglich, dass sich das Millionenquorum auf EU-Ebene dank Internet als unproblematisch erweist und sehr viele ECIs angemeldet werden. Doch es gibt Grenzen: „Es heißt, dass das EU-Parlament höchstens zehn Initiativen pro Jahr bearbeiten kann“, sagt eine Insiderin.

Wer wird Initiativen bei der EU anmelden?

Jeder EU-Bürger ist dazu berechtigt, sofern er Mitstreiter für seine Idee in mindestens sechs weiteren Mitgliedstaaten findet. Neben der bereits gestarteten Wasser-Initiative sind Forderungen nach bedingungslosem Grundeinkommen, arbeitsfreien Sonntagen oder dem Heiratsrecht für Homosexuelle angekündigt. Sie werden von Bürgerinitiativen, Verbänden oder Politikern getragen.

Kann die Idee missbraucht werden?

Kritiker befürchten, dass sich in den Initiativen nicht nur echter Bürgerwille äußert, sondern dass politische und wirtschaftliche Interessenverbände die Europäische Bürgerinitiativen nur als zusätzlichen Hebel nutzen. Tatsächlich will Werner Faymann, Bundeskanzler im AKW-freien Österreich, eine Bürgerinitiative zum Atomausstieg anstoßen. Auch Großunternehmen sollten laut Noah Reymond von der Beratungsfirma Fleishman-Hillard aktiv werden. Er helfe gern, „paneuropäische Graswurzelkampagnen zur Unterstützung Ihrer Unternehmensziele“ aufzubauen – gegen Honorar, versteht sich.