Stuttgarts Oberbürgermeister beschreibt das Stuttgarter Bankenviertel als kafkaesken Ort. Etwas Eigentümliches hat das Quartier zwischen Hauptbahnhof und „Milaneo“-Baustelle. Aber hat Fritz K. damit Recht? Erik Raidt begibt sich auf eine Spurensuche.

Stuttgart - Die Bank weigert sich, zu schlafen. Noch leuchtet Neonlicht aus längst verlassenen Büros. Das Licht erhellt leere Besprechungszimmer, einsame Schreibtische, schweigsame Büropflanzen. Es ist der Blick in die nächtliche Innenwelt des LBBW-Bankenviertels unweit des Hauptbahnhofs – es ist ein Einblick durch das Glas, das die tagsüber belebten Bürowelten umgibt. Aber was geschieht dort jetzt, nachts, wenn das Heer der Angestellten die Bankenwelt verlassen hat? Da und dort sitzen Männer am Empfang, zurückgelassen, um aufzupassen. Eine Putzfrau wringt einen Lappen aus. Fallen trotz der späten Stunde noch Entscheidungen in höheren Etagen, aus denen vereinzelt noch Licht dringt?

 

Es ist ungewiss. All das bleibt dem abendlichen Flaneur, der durch die meist menschenleeren Innenhöfe der Banken schlendert, verborgen. Wer hier zwischen Lichtstelen und ausgetrockneten Wasserspielen unterwegs ist, ist nah dran an den Banken und zugleich fern davon, sie zu verstehen. Man befindet sich mitten in jener urbanen Todeszone, über die der OB Fritz Kuhn immer wieder öffentlich redet, wenn er sie als abschreckendes Beispiel für neue Stadtquartiere anführt. „Hier könnten sie eine Kafka-Verfilmung drehen“, hat er erstmals im StZ-Sommerinterview gesagt und seitdem oft wiederholt.

Schattenhafte Mächte im Labyrinth

Wie in einem albtraumhaften Labyrinth bewegen sich viele von Kafkas Figuren in seinen Romanen und Erzählungen. Sie werden mit Mächten konfrontiert, die undurchsichtig bleiben, die das Leben der Figuren aber bestimmen. So wird Josef K. im „Prozess“ zum Opfer eines Gerichts – verzweifelt versucht er, Kontakt zu dieser Institution aufzunehmen. Gerade dessen schattenhaftes Wesen vergrößert die Macht, die es über Josef K. ausübt (siehe Textauszug).

Aber über wen oder was üben die Bankentürme der LBBW Macht aus? Am offensichtlichsten geschieht dies mit dem öffentlichen Raum zwischen dem Hauptbahnhof und der Stadtbibliothek. Kein Grashalm und kein Efeublatt wächst von den exakt abgegrenzten Grünflächen nur einen Zentimeter in den Durchgang für die Passanten hinein. Nichts wuchert hier auf eine Weise, die nicht festgelegt wäre. In dieser Passage lädt alles zum Passieren ein und nichts zum Verweilen. Pünktlich zum Büroschluss hat die junge Verkäuferin der einzigen Bäckerei ihren Stehtisch hineingeräumt. Nun gibt es nichts mehr: kein Café und kein Atelier, das die Menschen einlädt, stehen oder sitzen zu bleiben.

Eine Passage wie ein Teilchenbeschleuniger

Alles an diesem Ort ist dem Funktionieren untergeordnet. Die Passage, die zwischen und unter den Glaswelten hindurchführt, wirkt wie ein Teilchenbeschleuniger. Sobald die Menschen zum Feierabend aus der Bank hinausgespült werden, beschleunigt sich ihr Schritt. Fast alle gehen schneller als sonst, Rollkoffer in der Hand oder Smartphone am Ohr, kein Geschäft hält sie hier auf, kein Kiosk lädt zum Zwischenstopp ein. Der Weg zwischen den Türmen gleicht einer Rennpiste, auf der die Menschen nicht zur Seite blicken, sondern nur nach vorn, ihr Ziel fest vor Augen. Die Bank, mit ihren ineinander verriegelten Baukörpern, verlangt von den Menschen ein Bekenntnis: Sei ein Teil von mir oder bleib mir fern! Es gibt kein Dazwischen – und damit auch keinen öffentlich nutzbaren Raum.

„Die Stimmung im Bankenviertel und am Mailänder Platz würde ich als kafkaesk beschreiben“, sagt Fritz Kuhn. „Es entsteht dort ein Gefühl der Anonymität, der Entfremdung und des Alleingelassenseins.“ Er stelle sich ein offenes und lebendiges Stadtquartier anders vor.

Die Verwandlung der Stadt

Wer die Bankentrutzburg und den in unruhigen Träumen gefangenen Hauptbahnhof hinter sich lässt, betritt Stuttgarts größte Baustelle und sieht die „Verwandlung“ der Stadt: Eine von Treppenstufen umfasste betonierte Fläche darf sich ungestraft Pariser Platz nennen, obwohl den meisten Betrachtern wohl nichts ferner liegt, als in dieser Ödnis Paris zu entdecken. Hinter dem Pariser Platz beginnt die Zukunft der Stadt, die sich inzwischen schon in Teilen aus Baugruben heraus in die Höhe geschoben hat: Die Stadtbibliothek steht bereits, und in vielen Wohnungen der „Pariser Höfe“ leuchtet Licht.

Auch diese Wohneinheiten für Besserverdienende schotten sich nach außen ab – nichts öffnet sich auf Erdgeschosshöhe. Bistroflair wird den Bewohnern und den Besuchern nicht um die Nase wehen. Großklotzig stehen diese „Pariser Höfe“ wie ein Massiv unweit der Bibliothek, und dieser Formensprache wird auch die Sparkassenakademie folgen, die in unmittelbarer Nachbarschaft schon an Konturen gewinnt. Noch ist das letzte Wort über die Zukunft des Europaviertels nicht gesprochen. Auch nachts sprühen Schweißgeräte Funken. Ein Einkaufszentrum wächst aus Fundamenten empor.

Fritz K. wird zur Eröffnung kommen

Mächtig werden fast alle Bauten wirken, die hier entstehen, und sie werden versuchen, das Leben der Menschen zu steuern: Kauft mehr ein! Arbeitet! Schlaft! In diesem Sinne werden die Menschen fremdbestimmt, wie viele von Kafkas Romanfiguren. Andererseits: das meiste davon wird im Gegensatz zur Bankenwelt leicht zu durchschauen sein. Für eine Kafka-Verfilmung wird das neue Europaviertel zu wenig rätselhaft. Dass ausgerechnet Fritz K. die meisten Bauten hier eröffnen wird, ist jedoch schon ein wenig kafkaesk.