Bundeskanzlerin Angela Merkels Partei hat kein Rezept gegen die eurokritische Konkurrenz. Wenn es gut läuft für die Union, liegt ihr Ergebnis auf dem Niveau der letzten Europawahl vor fünf Jahren.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Berlin - Zu den wenigen Gewissheiten dieses Wahlsonntags zählt ein Termin am Nachmittag. Gegen 15 Uhr wird Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Mensa des Berliner Studentenwerks an der Dorotheenstraße erscheinen – im Wahllokal Nummer 228. Hier gibt Merkel ihren Stimmzettel ab. Den Abend verbringt sie im Kanzleramt. Die ersten Kommentare zum Wahlergebnis überlässt sie ihrem Generalsekretär. Eine gigantische Wahlparty wie vor einem halben Jahr, als Merkel fulminant in ihren Amt bestätigt wurde, ist nicht vorgesehen.

 

Die Union hat vermutlich wenig zu feiern. Wenn es gut läuft für Merkels Partei, liegt ihr Ergebnis auf dem Niveau der letzten Europawahl vor fünf Jahren – also deutlich unter den triumphalen 41,5 Prozent der Bundestagswahl. Der Wert dieses Urnengangs als Stimmungstest nach dem Start der großen Koalition wird ohnehin bestritten, da wohl nur eine Minderheit des Wahlvolks abstimmen wird. Für die Machtbalance in ihrem Regierungsbündnis ist aus Merkels Warte wichtig, dass die Verhältnisse gewahrt bleiben. Im Klartext: der Abstand zum Juniorpartner SPD darf nicht allzu sehr schrumpfen. Kleinere Verluste sind eingepreist. Falls die Union aber heftige Einbußen hinnehmen müsste, stünden Merkel unliebsame Debatten ins Haus. Die aktuellen Umfragen sprechen allerdings keineswegs dafür.

Merkels Probleme mit den D-Mark-Nostalgikern

Zu den wenigen Gewissheiten dieses Wahlsonntags wird auch der erwartbare Freudentaumel im Berliner Hotel Maritim gezählt. Dort fiebert die eurokritische Alternative für Deutschland (AfD) ihrem ersten Triumph entgegen. Je mehr Stimmen die D-Mark-Nostalgiker auf sich vereinen können, desto größer werden Merkels Probleme: Erstmals seit zwei Jahrzehnten erwächst der Union wieder in nennenswerter Stärke Konkurrenz von rechts. Das wird die innerparteilichen Diskussionen über Merkels Kurs, die sozialdemokratische Schlagseite der großen Koalition und das verblasste Profil der Union neu entfachen. Die größte deutsche Volkspartei hat kein Rezept für den Umgang mit diesen Populisten in Nadelstreifen. Merkels Taktik des Totschweigens vermag deren Erstarken offenbar nicht zu bremsen. Aber die bayerische Schwesterpartei CSU ist mit ihrer Anti-AfD-Politik nach den Grundsätzen der Homöopathie auch nicht sonderlich erfolgreich: Sie versucht die gegen Brüssel gerichtete Demagogie mit den gleichen Methoden zu bekämpfen. Die Umfragen deuten nicht darauf hin, dass dies sehr effektiv ist. Horst Seehofer liegt mit seiner CSU unter dem Niveau von 2009.

Die Sozialdemokraten dürfen Zugewinne erwarten

Für die Sozialdemokraten gilt der schöne Satz, dass sie an diesem Sonntag eigentlich nur gewinnen können. Der klingt besser als die Fakten: Die SPD war vor fünf Jahren auf katastrophale 20,8 Prozent abgestürzt. Die Demoskopen verheißen ihr Zugewinne – aber die hatten sich schon 2009 verschätzt. Ein Resultat um die 27 Prozent wäre noch kein Anlass, über dem Willy-Brandt-Haus Feuerwerksraketen zu zünden. Immerhin dürfte sich Parteichef Sigmar Gabriel mit seiner staatstragenden Politik bestärkt sehen. Alles, was unter diesem Wert liegt, würde Fragen zu seinem Kurs aufwerfen – und Diskussionen etwa über die Steuerpolitik anheizen. Die SPD wäre mit dem Rätsel konfrontiert, wie sie jemals wieder mehrheitsfähig werden will. In der großen Koalition hat sie ihre wichtigsten Trümpfe ja bereits ausgespielt: Mindestlohn und Rentenpaket.

Grund zum Feiern haben eher die Randfiguren des deutschen Politikbetriebs. Dank der Mithilfe des Verfassungsgerichts, das jegliche Prozentlimits für den Einzug ins Europaparlament für nichtig erklärt hat, wird diese Europawahl ein Festival der politischen Zwerge. Eine Reihe von Kleinparteien darf damit rechnen, einen Sitz in Straßburg zu ergattern. Dazu zählen neben der AfD, die wohl fünf oder gar mehr Abgeordnete in die Machtzentrale der geschmähten Eurokratie entsenden darf, voraussichtlich auch die rechtsextremistische NPD und ihre Konkurrenten, die Republikaner. Chancen haben auch die Familienpartei, die Piraten, die Tierschutzpartei und die ÖDP. Unter den Liliputanern der Parteienlandschaft sind auch die Liberalen gelandet. Wenn sie um die fünf Prozent erreichen, würde das ihre Hoffnung auf eine Renaissance stärken.