Beim EU-Gipfel in Brüssel hat Merkel auf Druck der Südländer Zugeständnisse gemacht. Genau wie zuhause. Auch in Deutschland wird es für die Kanzlerin immer schwieriger, ihre Politik durchzusetzen.

Brüssel - Der Verlauf des Fußballspiels an diesem Freitagmorgen entspricht schon nicht mehr ganz der Realität. Nahe des Schuman-Kreisverkehrs, wo im Ratsgebäude der EU-Gipfel stattfindet, spielen die „Schuldensklaven“ gegen eine haushoch überlegene Mannschaft von EU-Kommission und Europäischer Zentralbank. Griechenland, Spanien, Italien, Irland und Portugal verlieren den Kick auch deswegen mit 13:0, weil ihnen im Tor des Gegners jemand gegenübersteht, der jeden Treffer erbarmungslos verhindert. Die deutsche Torfrau trägt in diesem satirischen Fußballvergleich, das der englische EU-Hasser Nigel Farage organisiert hat, keinen Namen. Dennoch ist klar, wer damit dargestellt werden soll: Bundeskanzlerin Angela Merkel.

 

Das Ergebnis des EM-Halbfinales Deutschland gegen Italien, von dessen Zwischenständen Merkel nur per SMS erfahren hat, weil die Sitzung doch zu ernst war, als dass EU-Ratschef Herman Van Rompuy eine längere Fußballpause erlaubt hätte, spiegelt den Verlauf dieses Europäischen Rates viel eher wieder. 2:1 für Italien.

Angereist war die Deutsche mit einem zur Schau getragenen Desinteresse. Ihre Leute sprachen von „Panikmache“ , die angeschlagenen Spanier und Italiener sollten sich nicht so haben. Bei ihren Auftritten zu Beginn des Gipfels überhörte sie die lautstark vorgetragenen Hilferufe aus Madrid und Rom ganz bewusst. Statt von den hohen Zinsen, die die Südländer Richtung Abgrund treiben, sprach die Kanzlerin lieber vom neuen Wachstumspaket. Die Berliner Entourage wollte am Anfang von Merkels ganz persönlichem Euro-Marathon offensichtlich den Eindruck erwecken, es handele sich um Routinetermine.

Den Beschluss zum Wachstumspaket blockiert

Es war dann doch das erwartet schwere Spiel, um im Fußballerjargon zu bleiben. „Merkel ist in der Runde sehr direkt angegangen worden“, berichteten mehrere Diplomaten anschließend. Italiens Premierminister Mario Monti, schwer verärgert darüber, dass er zwar spart und reformiert, was das Zeug hält, die Finanzmärkte ihn aber trotzdem abstrafen, machte in der Sitzung ultimativ deutlich, dass er ohne eine Hilfszusage der Partner nicht nach Rom zurückkehren werde. Zusammen mit dem Spanier Mariano Rajoy blockierte er den formellen Beschluss zum neuen Wachstumspakt, den der neue französische Staatspräsident François Hollande seinen Wählern versprochen hatte. Hollande traf sich alleine mit Monti, die Kanzlerin berichtete, sie habe sich „mindestens zehn Mal“ mit dem Italiener besprochen.

Die Bundeskanzlerin ist von dessen beinharter Haltung nicht überrascht. Sie weiß, dass gerade Monti eine Schlüsselfigur für die Eurorettung ist, die gestärkt und nicht geschwächt werden muss. Und Merkel wäre nicht Merkel, wäre sie nicht vorbereitet gewesen. „Was am Ende verabschiedet wurde“, sagte später ein EU-Diplomat eines Nachbarlandes auf die Frage, ob Merkel in der langen Nacht von Brüssel eine Kehrtwende vollzogen habe, „war die fertig vorbereitete deutsche Rückfallposition.“

Nebenan tagen die Finanzstaatssekretäre

Parallel zu den Staats- und Regierungschefs tagte in einem Nachbargebäude die Euro-Arbeitsgruppe der Finanzstaatssekretäre, um an etwas zu arbeiten, was der Franzose Hollande einen neuen „Mechanismus für mehr Stabilität“ nannte. Das geschah unter Leitung des Österreichers Thomas Wieser, auf Antrag Spaniens und Italiens, aber natürlich unter Beteiligung Deutschlands. Schon am frühen Donnerstag stießen die Topberater der Staats- und Regierungschefs dazu, Vertreter Merkels war Nikolaus Meyer-Landrut. „Das war schon ein starkes Zeichen dafür, dass Deutschland bereit ist, ernsthaft über kurzfristige Rettungsmaßnahmen zu verhandeln“, berichtete eine EU-Diplomatin.

Es war schon ein Uhr am Freitagmorgen, als die Sitzung der Eurogruppe überhaupt erst begann. Auch das Abendessen zuvor hatte – ganz südländisch – erst um 22.45 Uhr begonnen. Für das Thema, das vor dem Gipfel als das beherrschende Gipfelsujet gegolten hatte, blieb nicht allzu viel Zeit. „Ironischerweise spielte die Zukunft der Eurozone gar keine große Rolle mehr“, kommentierte eine irische Diplomatin. Beschlüsse darüber wurden vertagt.

Stattdessen gingen die „Chefs“ der Eurogruppe Satz für Satz die Erklärung durch, die Meyer-Landrut und die anderen Sherpas mit aus dem Nebengebäude brachten. Und schenkt man der besagten Diplomatin Glauben, war es nicht Merkel, die gedrängt und überredet werden musste, sondern vielmehr die Niederländer und Finnen, die immer mehr zusätzliche Garantien und Sicherheiten gefordert hätten. „Bei den Finnen und Holländern hat sich Merkel sogar als Vermittlerin betätigt, sie ging rein und raus aus dem Ratssaal, um Kompromisse zu finden.“

Merkel kommt Italien und Spanien entgegen

Druck auf die Kanzlerin? Das wies sie selbst am Freitag weit von sich, als sie den Brüsseler Journalisten die Gipfelergebnisse präsentierte. „Druck ist in den Finanzmärkten“, sagte Angela Merkel, „und ich habe gedrückt, dass die Prozeduren eingehalten werden.“ Das Entgegenkommen an Italien und Spanien beinhaltet deswegen eine Reihe von technischen Details und Bedingungen, die aber nicht verhindern konnten, dass Monti und Rajoy in den internationalen Medien als die großen Sieger gefeiert wurden. Merkels Gipfelkollegen taten ihr aber den Gefallen, niemanden offiziell zum Sieger zu erklären. „Kein Land hat verloren“, sagt François Hollande, „Europa hat gewonnen.“ Er sagte aber auch einen Satz, der zumindest andeutete, dass Angela Merkel bei diesem EU-Gipfel nicht die Richtung, sondern höchstens die Geschwindigkeit dorthin bestimmt hat: „Europa ist neu ausgerichtet worden.“ Und Belgiens Expremier Guy Verhofstadt, der die liberale Fraktion im Europaparlament führt, brachte die Brüsseler Nacht auf folgenden Punkt: „Sie hat sich bewegt.“

Zwei Regierungserklärungen in drei Tagen

Das ist genau der Punkt, der Merkel zu Hause Probleme bereitet. Am Freitagabend gibt sie vor dem Bundestag zum zweiten Mal binnen drei Tagen eine Regierungserklärung ab. Doch es wird für die Kanzlerin immer schwerer, ihre Politik, die sie in Brüssel ausverhandelt, so zu übersetzen, dass sie in Berlin noch akzeptiert wird.

Merkel redet eine knappe Viertelstunde, bevor sie auf die aktuellen Beschlüsse zu sprechen kommt. Sie erläutert diese mit einer technischen Präzision, die keinen Zweifel daran aufkommen lässt, dass sie sehr wohl weiß, was sie tut. Doch bleibt offen, ob diese technokratische Sprache auch zu überzeugen vermag. Die Kommunikation über das, was in Brüssel entschieden wurde, sei „sehr uneinheitlich“, sagt Merkel. Es gebe „sehr viele Missverständnisse“. Ihre Botschaft lautet: Sie stehe weiter zu „harten Auflagen“ für alle, die der Hilfe bedürften. Es gebe kein Abweichen von der bisherigen Linie.

Im Vorfeld des Gipfels hatte die Zeitung mit den größten Buchstaben der Kanzlerin bereits ein Denkmal errichtet: Merkel steinhart, ihre Büste in Fels gemeißelt. Es fußt auf einem kuriosen Versprechen. Auf dem Podest, der ihr Konterfei trägt, ist ein Satz eingraviert, den Merkel Anfang der Woche ausgesprochen hat – leichtfertig oder wohl kalkuliert? Noch widersprechen sich die Deutungen. Eine Vergemeinschaftung der Schulden werde es nicht geben, so die Kanzlerin – „solange ich am Leben bin“.

Entschiedenheit in diesem Punkt ist für Merkel tatsächlich eine politische Überlebensfrage. Im eigenen Lager wächst die Zahl der Skeptiker, die der Euro-Rettungspolitik misstrauen. Ihr Rückhalt ist umso gewisser, je überzeugender sie in Europa den Part der „Madame Non“ spielt. Das hatte ihr zuletzt Respekt verschafft. Doch nun steht die Haltbarkeit ihrer Lippenbekenntnisse wieder einmal in Frage. Es gibt eine Brüssel-Kanzlerin und eine Berlin-Kanzlerin. Doch die beiden sprechen offenbar nicht die gleiche Sprache.

Madame Non kann zu Hause auch „ja“ sagen

In der heimischen Politik war wiederholt zu erleben, wie Madame Non am Ende doch Ja sagt, wie die steinerne Kanzlerin weich wurde. Erst versprach sie der Atomlobby längere Laufzeiten für die Kernkraftwerke. Dann beschloss sie, diese beschleunigt abzuschalten. Erst polemisierte sie jahrelang gegen Mindestlöhne, schließlich hat ihre CDU unter dem Tarnnamen „Lohnuntergrenze“ selbst eine Art Mindestlohn erfunden. Merkels Politik ist nicht ohne Widersprüche.

Die strenge, knallharte Frau Merkel? Das ist eine Legende, die noch nie der Wahrheit entsprach. Ihre politische Karriere ist eine Geschichte, die von Beweglichkeit und Nachgiebigkeit erzählt. Als strenge, kompromisslose Reformerin hatte sie einst begonnen – und die Wähler damit eher verschreckt. Das kostete sie beinahe das Kanzleramt. Merkel orientierte sich neu. Aus der Radikalreformerin wurde die Kanzlerin aller Deutschen – eine Art Mutter der Nation. Ihr größtes Kapital ist das Vertrauen, das sie bei einer überwiegenden Mehrheit der Bürger genießt – es sind weitaus mehr als die Zahl der strammen CDU-Anhänger. Das Vertrauen galt bisher besonders ihrer Arbeit als Krisenmanagerin. Doch Vertrauen ist eine weiche Währung.

Was treibt diese Frau eigentlich an? Ihr Job ist zurzeit ein frustrierendes Geschäft. Er erinnert an die Aufgabe des Sisyphos, dem die Götter auferlegt hatten, einen Stein bergan zu rollen. Kaum war er oben angekommen, kullerte die Last wieder talwärts, so erzählt es die griechische Sage. Ganz ähnlich verlaufen die Tage der Kanzlerin. Doch Merkel kann mit diesem Bild wenig anfangen. „Sisyphos ist ein leidender Mensch, doch sie leidet ja nicht“, sagt eine enge Mitarbeiterin. Merkels Einsatz zur Rettung des Euro sei mühsam und mitunter ausgesprochen anstrengend, aber gerade dies sei für sie eine „Quelle der Motivation“. Merkel sieht die Krise wie einen Berg von Schwierigkeiten, die Brocken für Brocken abgetragen werden müssen. Doch sie muss aufpassen, dass ihr die Brocken nicht auf die Füße fallen.

Merkels mühsamer Einsatz zur Rettung der Währung

Entscheidend bleibt, dass die Bürger den Glauben nicht verlieren, Merkel verfolge letzten Ende den richtigen Kurs und wahre die Interessen der deutschen Steuerzahler. Ihr Ruf und das Zutrauen in ihre Verlässlichkeit als Krisenmanagerin – auf diesem Sockel ruht ihre Kanzlerschaft. „Die Leute nehmen ihr ab, dass sie sich für Deutschland ein Bein ausreißt“, so kalkulieren ihre Strategen. So ließ sich das bisher auch in den Umfragen ablesen. Und solange das gilt, solange eine Mehrheit ihr mehr als anderen zutraut, das Land durch die Untiefen der Eurokrise zu manövrieren, zählt Merkels Verlässlichkeit mehr als das Kleingedruckte in Brüsseler Kommuniqués, mehr als das endlose Gewerkel ihrer zerstrittenen Koalition. Merkel, die Krisenkanzlerin – das ist ihr Schicksal und zugleich ihre Chance. An dieser Schablone wird sie gemessen.