Lange wurde über die Opfer der „Euthanasie“-Morde im Dritten Reich geschwiegen. Nun hat die Republik in Berlin einen Gedenkort für die 300 000 getöteten Menschen.

Berlin - Golden und heiter leuchtet im Herbstlicht die Fassade der Berliner Philharmonie südlich des Tiergartens. Gemeint war dieses Haus bei seiner Errichtung auch als bundesrepublikanische Antwort, als „gebaute Demokratie“, die hier am Orte siegte über die wahnwitzigen Germania-Pläne von Hitlers Architekt Albert Speer. In einem harten Komplementärkontrast schimmert seit Dienstag eine kaltblaue Glaswand vor dem Haus. Sie ist der Kern eines Denkmals, das lange keiner hier wollte. Etwa 300 000 Menschen wurden zwischen 1940 und 1945 von den Nationalsozialisten ermordet, weil sie körperlich oder geistig behindert waren, weil sie eine psychische Krankheit hatten, lernschwach waren, pflegebedürftig – und also nach der moralbefreiten NS-Ideologie Ballast für die gesunde Volksgemeinschaft. Es waren Menschen, die bis dahin in Obhut waren – von Ärzten, Pflegern, Schwestern, Leuten mit Garantenstellung, die die Schwachen eiskalt verrieten, genau wie jene Wissenschaftler, die sich auf der Suche nach Erkenntnissen die Wehrlosen zum Forschungsmaterial machten.

 

Über all das sprach lange niemand – nicht in der Gesellschaft, nicht einmal in den Familien der Opfer, und viele Täter waren nach 1945 einfach weiter Ärzte, Wissenschaftler, Verwalter. Der Staat verweigerte den „Euthanasie“-Opfern und auch 400 000 Menschen, die zwangssterilisiert wurden, lange die Anerkennung. Erst 2007 wurde das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses geächtet.

24 Meter lange Glaswand

Das Denkmal für die Opfer der „Euthanasie“-Morde, das am Dienstag der Öffentlichkeit übergeben wurde, wird das Schweigen an diesem Ort künftig unmöglich machen. Der Denkmalentwurf stammt von der Berliner Architektin Ursula Wilms, dem Stuttgarter Künstler Nikolaus Koliusis und dem Aachener Landschaftsarchitekten Heinz Hallmann. Sie hatten sich damit bei einem Gestaltungswettbewerb durchgesetzt. Gegenüber der 24 Meter langen Glaswand erstreckt sich eine Art Informationstresen, der eine Ausstellung über die Geschichte der NS-„Euthanasie“-Morde mit ihren Auswirkungen bis in die Gegenwart zeigt. Hier, in der Tiergartenstraße 4, wo heute das lichte Foyer des Konzerthauses liegt, stand einmal die Villa einer jüdischen Familie, die von den Nazis „arisiert“ worden war. Ab April 1940 residierte hier die „Zentraldienststelle T4“.

Ein Tarnname, der nach geregelten Abläufen klingt – und das stimmte auch: Unter der Adresse organisierten Beamte und Mediziner den staatlichen Massenmord. Die Aktion, die den Namen „T4“ trug, hatte die effiziente Vernichtung von Menschen zum Ziel – ein perfider Probelauf für den Holocaust. In sechs Tötungsanstalten – die erste davon in Grafeneck auf der Schwäbischen Alb – verwirklichten die Nationalsozialisten zum ersten Mal die Massenvernichtung von Menschen mit Gas. 70 000 Personen kamen so zwischen Januar und August 1941 ums Leben und wurden verbrannt, später wurden die Opfer mit Medikamenten vergiftet oder ausgehungert.

Die Rauchsäulen über den Krematorien

Die Aktion galt als geheim. Aber geheim war gar nichts. Jeder konnte die grauen Omnibusse der „Gemeinnützigen Krankentransportgesellschaft“ mit den gestrichenen Scheiben sehen, die auf offener Straße fuhren, und die Rauchsäulen der Krematorien in den Tötungsanstalten standen schwarz am Himmel.

Kulturstaatsministerin Monika Grütters erinnerte bei der bewegenden Gedenkfeier an die „unfassbar menschenverachtende Unterscheidung zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben“. Sie sagte: „Der Gedenkort T4 konfrontiert uns heute mit der grauenvollen NS-Ideologie, die sich anmaßte, das einzelne Leben nach Nützlichkeit und Brauchbarkeit zu beurteilen.“ Von dem Ort gehe die Botschaft aus, dass jedes menschliche Leben es wert sei, gelebt zu werden, sagte Grütters und erlaubte sich eine persönliche Anmerkung: Sie warne angesichts der aktuellen Debatte über eine Zulassung der Sterbehilfe davor, das „Tötungsverbot leichtfertig zur Disposition zu stellen“. Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit erinnerte daran, dass etwa zehn Prozent der Deutschen mit einer körperlichen oder geistigen Einschränkung leben. Beide Politiker dankten den Angehörigen von „Euthanasie“-Opfern, denen der Gedenkort allen voran zu verdanken sei.

2011 beschloss der Bundestag die Errichtung des Denkmals

Gemeint sind Bürger wie die Berliner Lehrerin Sigrid Falkenstein, die lange nichts vom Schicksal ihrer Tante Anna Lehnkering ahnte und vor elf Jahren zufällig im Internet auf einer Liste von Opfern auf deren Namen stieß. Seitdem forschte sie, vernetzte sich mit anderen Nachkommen von Opfern, schrieb Briefe und Petitionen, gründete einen Runden Tisch, bis endlich 2011 der Bundestag die Errichtung eines Denkmals beschloss.

Sigrid Falkenstein hat die Krankenakte ihrer Tante Anna eingesehen, die 1936 zwangseingewiesen wurde. Sie las über Annas Verzweiflung und ihr Heimweh. Über ihre Selektion in die Gruppe derer, die in der T4-Kategorisierung nicht arbeitsfähig, also „lästig“ und damit todgeweiht waren. Anna – heute würde man sie lernbehindert nennen – starb mit 24 Jahren in Grafeneck. Offizielle Ursache: Bauchfellentzündung.

„Mehr als siebzig Jahre nach den Verbrechen schulden wir den Opfern endlich einen Platz im Gedächtnis unserer Familien, einen Platz im kollektiven Gedächtnis unseres Landes“, sagte Falkenstein bei dem Gedenkakt. Sie beim Namen zu nennen, gebe ihnen etwas von ihrer Identität wieder. „Sie lachten und weinten, waren fröhlich oder traurig – kurzum, sie hatten wie jeder Mensch eine eigene Persönlichkeit.“