Im Auftrag des „Zentrums für Mission in der Region“ der Evangelischen Kirche Deutschlands erklärt der Soziologe Daniel Hörsch, was die Sozialwissenschaft über die religiöse Lage evangelischer Christen im Land zu sagen hat.

Lokales: Mathias Bury (ury)

Stuttgart - Er sei ein „reisender Referent“ , sagt Daniel Hörsch über sich. Im Auftrag des „Zentrums für Mission in der Region“ der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD), das seinen Hauptsitz in Dortmund hat, reist der Soziologe durch die Republik und erklärt in Institutionen der Kirche, was die Sozialwissenschaft zu sagen hat über die religiöse Lage evangelischer Christen im Land.

 

Dieser Tage hat Daniel Hörsch bei der Stuttgarter Kirchenkreissynode die Ergebnisse der jüngsten „Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung“ präsentiert, die die EKD alle zehn Jahre vorlegt. Es geht dabei um nicht weniger als um die kirchliche Praxis der Zukunft. Der aus Württemberg stammende Pfarrerssohn, der im Südbüro des EKD-Zentrums im Stuttgarter Westen tätig ist, spricht von einem „Paukenschlag“ und einem „Weckruf“, den die Untersuchung mit bundesweit mehr als 3000 Befragten für die Arbeit der Kirche bedeute.

Im privaten Nahbereich

Drei wesentliche Erkenntnisse habe diese erbracht, sagt Hörsch: So finde heute ein Austausch über religiöse Fragen noch „ausschließlich im privaten Nahbereich“ statt, also in der Familie und unter engen Freunden, aber nicht in kirchlichen Kreisen. „An diesen Nahbereich kommen wir aber kaum hin“, sagt der Soziologe.

Befund Nummer zwei: 40 Prozent der Befragten seien wenig oder gar nicht religiös, weitere 40 Prozent gegenüber Religion und Kirche unbestimmt bis gleichgültig, nur 20 Prozent bezeichneten sich als ziemlich oder sehr religiös. Diese Selbsteinschätzung entspreche im Übrigen den Ergebnissen der „Lebensstilbefragung“ der Stadt Stuttgart aus dem Jahr 2008.

Und das dritte Ergebnis: Wenn auch die Gruppe der Indifferenten doch punktuell Kontakt zur Kirche habe, etwa bei Taufen, Hochzeiten oder Beerdigungen, dann erwarte man heute von dieser eine gute Dienstleistung, die den individuellen Vorstellungen der Einzelnen genüge. „Die Ansprüche sind gestiegen, man will eine gute Performance“, sagt Daniel Hörsch.

40 Prozent weniger Konfirmanden

Diese Einsichten bergen für die Kirche einige Herausforderungen. Angesichts der wachsenden Kirchenferne und der Familie als ausschließlichem Ort der Weitergabe religiöser Überlieferung werde sich der seit längerem feststellbare „Traditionsabbruch“ drastisch vertiefen. Warnendes Beispiel ist laut Hörsch das Land Thüringen, wo 2004 die Zahl der Konfirmanden plötzlich um 40 Prozent zurückging und seither nicht wieder gestiegen sei. „Das werden wir im Süden irgendwann auch bekommen, wenn auch nicht ganz so gewaltig“, befürchtet Hörsch.

Für den Religionssoziologen ist aus all dem nur ein Schluss zu ziehen, besonders was die große Gruppe der indifferenten Christen betrifft, die der Kirche keineswegs durchweg abgeneigt sei: „Wir müssen uns auf diese einstellen und zuhören, was sie bewegt und was sie erwarten.“

„Wir müssen Kontaktflächen schaffen“

Daniel Hörsch ist überzeugt, dass in der kirchlichen Arbeit ein „Paradigmenwechsel“ bevorsteht. Diese müsse künftig nicht mehr so sehr von der Institution Kirche her entwickelt werden, sondern sich an der „Alltagsrelevanz“ für die Menschen orientieren. Das heißt für den Sozialwissenschaftler etwa, dass man mit Ehrenamtlichen zum Beispiel quartiersortientierte Nachbarschafthilfen oder Familienzentren entwickelt und so die Lebenswelt der Menschen erreicht. „Wir müssen Kontaktflächen schaffen und dabei nicht immer gleich mit der Bibel winken“, meint er.

Solche Netzwerke könnten freilich nur unter Mithilfe von Ehrenamtlichen gebildet werden. Dass diese Art von Gemeindearbeit künftig weniger „pfarrerzentriert“ sein werde, hält Hörsch für ausgemacht. Zumal er davon ausgeht, dass mit der Zahl der Kirchenmitglieder auch die der Pfarrerinnen und Pfarrer abnehmen wird. „Heute haben wir noch 160 in Stuttgart, in zehn bis 15 Jahren wird das nur noch eine zweistellige Zahl sein“, ist er überzeugt.

Hörsch hat schon einige gute Ansätze in Stuttgart ausgemacht, die zeigten, wie der Weg in die Zukunft aussehen könnte. So das Familienzentrum der Friedensgemeinde am Neckartor. Ein Beispiel für die „Laienkirche“, die ihm vorschwebt, ist die Gemeinschaft Offener Abend im Süden, wo Ehrenamtliche christliches und gesellschaftliches Engagement verbinden und zahlreiche lebenspraktische Seminare, Gesprächskreise und Gottesdienste organisieren. „In der evangelischen Kirche in Stuttgart sind etwa 10 000 Ehrenamtliche aktiv, mit diesem Potenzial lässt sich viel Positives bewirken“, sagt er – und kündigt an, dass sich der Bezirksausschuss der Kirchenkreissynode im Herbst in einer Klausur mit den Schlussfolgerungen aus der EKD-Untersuchung befassen wird. Dabei räumt Daniel Hörsch ein, dass deren Ergebnisse zum Teil gar nicht so neu sind: „Einiges sagen Studien schon seit Jahren, aber man hat bisher noch zu wenig Konsequenzen daraus gezogen.“