Ernst Krittian, früherer Chefplaner der Bahn, hält die Neubaustrecke Wendlingen–Ulm für notwendig und hat Sympathie für den Kopfbahnhof.

Stuttgart - Ernst Krittian hat bis 1993 die Planung für die Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Stuttgart und Augsburg geleitet. Damals war die Idee, die autobahnnahe Trasse an den Kopfbahnhof anzuschließen. Keine Frage, dass er die Auseinandersetzung über Stuttgart 21 mit Interesse verfolgt. Die Ursache für den lautstarken Protest sieht der Professor in der mangelnden Aufklärung der Bevölkerung.

Herr Professor Krittian, Sie waren zu Beginn der 1990er Jahre der Leiter des Bahnprojekts "Neubaustrecke Stuttgart-Augsburg", das heute unter Stuttgart21 firmiert. Wie beurteilen Sie die aktuelle Lage?


Das Wichtigste ist und bleibt für mich die Neubaustrecke. Zwei neue Gleise zwischen Stuttgart und Ulm sind unverzichtbar. Ich befürchte aber, dass dieses Projekt in der Debatte über Stuttgart 21 in Gefahr gerät, weil die Politiker der Region beide Projekte - vielleicht aus taktischen Gründen - zusammengefügt haben. Wir haben zu meiner Zeit bei 80 Varianten abgewogen, welche Streckenführung für die betroffenen Bürger die zumutbarste ist. Dabei kam die autobahnnahe Trasse heraus. Ihr Schönheitsfehler: sie ist nicht güterzugtauglich.

Und Sie plädierten damals allerdings auch für den Erhalt des Kopfbahnhofs.


Der Vorstand der Bahn hatte nach der Abwägung, dass die autobahnnahe Trasse aus rein ökologischen Gründen die richtige ist, im Dezember 1993 zunächst beschlossen, den Kopfbahnhof beizubehalten. Das hätte bedeutet: von Feuerbach rein in einen ertüchtigten Kopfbahnhof, runter ins Neckartal und etwa bei Mettingen rauf auf die Filder zur autobahnnahen Trasse.

Wären heute im Neckartal nicht Demonstrationen wegen der zwei neuen Gleise zu erwarten, wie Projektsprecher Andriof betont?


Man kann eine Katastrophe auch herbeireden, das ist eine Schutzbehauptung der Stuttgart-21-Befürworter. Meiner Ansicht nach sind zwei zusätzliche Gleise im Neckartal bei gutem Willen machbar.

Sie beschreiben die K-21-Variante, die für Züge eine mächtige Brücke über das Gewerbegebiet in Obertürkheim benötigen würde.


Ja, einfach wäre das nicht. Im äußersten Notfall müsste man unter dem Neckar hindurch. Das wäre bei einer Abwägung zu gegebener Zeit technisch zu prüfen. Die beschriebene oberirdische Variante war zunächst auch die Vorstellung des damaligen Bahn-Chefs Heinz Dürr. Er hatte angeregt, wenn nötig, über den Parkplatz von daimler zu fahren; der Vorstandschef Edzard Reuter würde dem sicher zustimmen, hieß es. Wir sind dann aber nicht mehr zur Abwägung gekommen, weil sich die obersten Verantwortlichen der Region für einen Tiefbahnhof entschieden hatten.

Stuttgart 21 war also eine politische Entscheidung?


Wäre ich gehässig, würde ich sagen, das hat uns eine Stuttgarter Connection eingebrockt, deren Arm bis nach Bonn reichte. Und wer den Zeigefinger hob und sagte "lasst das bleiben", wurde aus dem Projektgedrängt. Von da an war ich nicht mehr Leiter des Gesamtprojektes "Stuttgart-Augsburg", sondern nur noch der Neubaustrecke. Die Planung für den Bahnhof wurde von Projektmanagern übernommen, die wenig Ahnung hatten, wie man mit dem Bürger umzugehen hat. Deshalb ist das alles so schiefgelaufen.

Stuttgart 21 ist ein städtebauliches Projekt, sagen Sie. War der Flächengewinn das entscheidende Argument?


Für die Stadt ist das eine einmalige und unwiederbringliche Entwicklungschance. Aus ihrer Sicht wäre es ein Gewinn, wenn der Durchgangsbahnhof käme. Das ist aber nicht mein Thema, sondern dass die Politiker das Projekt nach meinem Empfinden in Gutsherrenmanier beschlossen haben. Die Abwägung wurde nicht so kommuniziert, wie sich das unter zivilisierten Menschen gehört, sondern es wurde im stillen Kämmerlein beschlossen.