Willy Brandt wollte ihn für die Politik. Aber Edzard Reuter zog es in die Industrie, er wurde schließlich Daimler-Chef. Über seine Zeit beim Stuttgarter Autobauer kursieren unterschiedliche Darstellungen.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Stuttgart - Sein neues Opus, Titel: „Egorepublik Deutschland“, erscheint am Donnerstag. Es geht ums Große und Ganze, um Frieden und Freiheit in einer sich verändernden Welt. „Die Leserinnen und Leser dieses Buches wissen, dass sein Verfasser die weitere Vereinigung Europas für zwingend hält, wenn nicht unser aller Zukunft mutwillig aufs Spiel gesetzt werden soll“, formuliert Edzard Reuter auf Seite 139 seinen Leitgedanken.

 

Der Schöngeist wohnt in Schönberg, weit außerhalb des Stuttgarter Talkessels. Seine Gattin öffnet die Tür. Neben der Garderobe steht eine Büste seines Vaters Ernst Reuter, Sozialdemokrat und von 1948 bis 1953 Regierender Bürgermeister von Berlin. An den Wohnzimmerwänden hängen Bilder der Künstlergruppe ZERO, die in den 1960er Jahren dem Drama des Weltkriegs einen neuen Idealismus entgegensetzen wollte. Der Gast ist dem Hausherrn noch nicht begegnet und hat schon einen Blick in seine Geisteswelt erhascht.

Aus der Tiefe des Raums taucht eine hagere Gestalt auf, tiefe Furchen im Gesicht. Reuter kommt frisch aus dem Skiurlaub, er hat einiges zu erzählen. Seit 40 Jahren fährt er mit seiner Helga nach Zürs am Arlberg, immer in dasselbe Hotel. Rosemarie Springer, die ehemalige Dressurreiterin und dritte Ehefrau von Axel Springer, war auch wieder da. 92 ist die Dame mittlerweile und fit wie eh und je. Überhaupt scheint in Zürs die Zeit stillzustehen. Dort gibt es noch keinen dieser großen Schickimicki-Kästen wie in Lech oder St. Anton. Wobei man natürlich auch in dem österreichischen Alpendorf den gesellschaftlichen Wandel spürt. Früher gab es dort mehr Leute, mit denen man sich in Ruhe unterhalten konnte. Aber vielleicht neigt man im Alter auch nur dazu, die Vergangenheit zu verklären.

Kindheit in Berlin und Ankara

Die Vergangenheit. Edzard Reuter wird am 16. Februar 1928 in Berlin geboren. Seine sozialdemokratische Familie flieht vor Hitler, der Junge wächst in Ankara auf. Nach dem Krieg beginnt Reuter in seiner alten Heimat ein Studium der Mathematik und Physik, 1949 wechselt er zu den Rechtswissenschaften. Willy Brandt will ihn für die Politik gewinnen, doch Reuter bevorzugt die Industrie. Es zieht ihn zu Mercedes, dem Inbegriff deutscher Wertarbeit. Der Jurist stellt sich in Stuttgart vor, doch in dem schwäbisch-konservativen Unternehmen gibt es Vorbehalte gegen den Spross aus dem Berliner Promisozi-Elternhaus. Notgedrungen wird Reuter Prokurist bei der Ufa, anschließend Mitglied der Geschäftsleitung bei Bertelsmann. Er kommt mit den Verlegerfamilien nicht klar, versucht sein Glück erneut bei Mercedes und wird 1963 vom Personalvorstand Hanns Martin Schleyer für das Finanzressort engagiert. Noch ist Edzard Reuter ein kleines Licht.

Wie kommt man ganz nach oben? Indem man Eigeninitiative entwickelt, sagt Reuter. Indem man Missstände offen anspricht. Indem man zu seiner Meinung steht. Muss man die Ellbogen einsetzen? Ja, aber nicht um andere wegzuschubsen, sondern um Angriffe abzuwehren.

Im Herbst 1983 bricht Gerhard Prinz, Boss der Daimler-Benz AG, auf seinem Hometrainer tot zusammen. Der Vorstand sucht einen Nachfolger. Reuter, mittlerweile für die Finanzen im Konzern verantwortlich, plädiert für sich selbst, doch die Mehrheit präferiert den Entwicklungschef Werner Breitschwerdt. Reuter gibt nicht auf, entwickelt Pläne für einen „integrierten Technologiekonzern“, schmiedet innerbetrieblich eine Allianz mit dem Produktionschef Werner Niefer und überzeugt den Großaktionär Deutsche Bank von seinen Ideen. Im September 1987 ist er am Ziel: der Aufsichtsrat ernennt ihn zum Daimler-Chef.

Daimler wird zum Gemischtwarenladen

Über die folgenden acht Jahre kursieren unterschiedliche Darstellungen. Version eins: Reuter genügt es nicht, der erste Mann eines Unternehmens zu sein, das die besten Autos der Welt baut. Stattdessen kauft er auf, was es aufzukaufen gibt: AEG, MTU, MBB, Dornier, Fokker. Daimler wird zum Gemischtwarenladen, der außer Autos Kühlschränke, Lokomotiven und Düsenjets im Angebot hat. Der Egomane Reuter folgt unbeirrt seinem Machtstreben und pflegt seinen übertriebenen Hang zur Selbstdarstellung. Seine Hybris führt unvermeidlich zum tiefen Fall. Die nüchternen Fakten: am Ende von Reuters Dienstzeit verbucht Daimler Milliardenverluste, 80 000 Menschen im Konzern haben ihren Job verloren.

Dagegen steht Reuters persönliche Sichtweise: Ende der 1980er zeichnet sich ab, dass der Weltmarkt für Luxuslimousinen gesättigt ist. 50 000 Arbeitsplätze stehen bei Mercedes auf der Kippe. Um den schleichenden Niedergang zu stoppen, muss die Unternehmensbasis verbreitert werden. Der Konzern soll nicht nur auf dem Autogeschäft fußen, sondern auf vielen Beinen stehen, damit sich konjunkturelle Schwankungen intern ausgleichen lassen. Zudem entstehen dadurch Synergien: Auto- und Flugzeugingenieure können gemeinsam fortschrittliche Autos und Flugzeuge entwickeln. Langfristig, davon ist Reuter überzeugt, wird seine Strategie erfolgreich sein.

Doch schon 1995 ist die Geduld der Aktionäre aufgebraucht. Sie interessieren sich nicht für Reuters schönen Traum, sondern für Daimlers schlechte Bilanz. Der Marktwert des Unternehmens soll unter seiner Herrschaft um 37 Milliarden Euro geschrumpft sein, die Presse verpasst ihm den Titel „größter Kapitalvernichter aller Zeiten“. Bei der Hauptversammlung in der Hanns-Martin-Schleyer-Halle dankt Reuter als Vorstandsvorsitzender ab. Der neue Machthaber Jürgen Schrempp zerschlägt den „integrierten Technologiekonzern“ und nennt die Firmenzentrale, die Reuter für 300 Millionen Euro in Möhringen errichten ließ, „Bullshit Castle“.

Aus seiner Verachtung für Schrempp und dessen Helfer macht Reuter längst keinen Hehl mehr. Sein Nachfolger gehört für ihn zu den gierigen Turbokapitalisten, den Shareholder-Value-Anhängern, denen es nur um die schnelle Gewinnmaximierung geht. Die wahre Werthaltigkeit eines Unternehmens, meint Reuter, spiegle sich nicht im Aktienkurs wieder. Sein Ideal ist der ehrbare Kaufmann, der fürsorgliche Patron.

Moralischer Anspruch und Wirklichkeit

Wird Reuter den hohen ethischen Ansprüchen gerecht? Nicht immer. Zu Zeiten, als Berlin noch nicht einmal sexy, sondern nur arm war, mokiert er sich darüber, dass der nach seinem Vater benannte Ernst-Reuter-Platz verlottere. Auf die Idee, selbst ein paar Mark für die Erhaltung lockerzumachen, kommt er nicht. Schließlich müssen teure Hobbys wie Reiten, Segeln, Skifahren sowie die drei privaten Wohnsitze in Berlin, in Stuttgart und am Bodensee finanziert werden. Zweites Beispiel: 1979 verkündet der Finanzmanager Reuter, Firmenchefs müssten mehr Verantwortung für die Umwelt übernehmen. Doch während seiner Dienstzeit als Daimler-Oberboss kommt die protzigste und spritfressendste S-Klasse in der Mercedes-Historie auf den Markt – sie passte nicht einmal auf die Autoverladung nach Sylt. Dritter Hinweis auf eine Doppelmoral: Edzard Reuter macht Daimler in den 1990er Jahren zum Rüstungskonzern, weil Waffensysteme seinerzeit Wachstum versprechen (was sich nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs als Fehleinschätzung herausstellt).

„Natürlich gibt es solche Widersprüche, ein ideales Leben ist unmöglich“, sagt Reuter. „Man muss sich nach besten Kräften bemühen, aber auch Kompromisse eingehen.“ Im selben Moment kommt seine Frau ins Wohnzimmer und steckt ihm einen Zettel zu: Die Redaktion von Günther Jauch hat sich gemeldet, die Talkshow am Sonntag findet ohne den Gesprächsgast Reuter statt. „Da bin ich richtig erleichtert.“ Er habe eh keine Lust, sich mit den Kubickis dieser Welt herumzustreiten. Wünschte nicht sein Verlag TV- Auftritte, um den Verkauf von „Egorepublik Deutschland“ anzukurbeln, würde er jedes Fernsehstudio meiden. „Meine Gedanken zu Europa habe ich eigentlich für mich selbst geschrieben.“

Am kommenden Samstag wird Reuter 85 Jahre alt. Beschäftigt er sich mit dem Tod? „Selbstverständlich.“ An Gott, Wiedergeburt oder das Paradies glaubt er nicht: „Ich weiß, dass das Leben endlich ist, gerade deshalb muss man das Beste daraus machen.“ Eines Tages wird sein Vermögen an eine gemeinnützige Organisation gehen, die er mit seiner Frau Helga gegründet hat. Die Stiftung setzt sich für ein friedliches Miteinander von Menschen unterschiedlicher Herkunft ein.

„Ich bringe Sie noch hinunter.“ Edzard Reuter geleitet den Besucher durch den Garten, vorbei an eisernen Skulpturen und dem abgedeckten Swimmingpool. Das Tor fällt zu, eine Frage bleibt offen: Warum verbringt ein Schöngeist sein halbes Leben in der Großindustrie, anstatt für seine gesellschaftlichen Ideale zu kämpfen?