Sozialdemokrat und Konzernchef: Edzard Reuter ist ein Mann der Gegensätze. In Backnang spricht er sich für Ceta aus – und für den Dialog mit Putin und Erdogan.

Rems-Murr: Phillip Weingand (wei)

Backnang - Der ehemalige Daimler-Chef hat schon an mondäneren Orten gesprochen als im Feuerwehrgerätehaus von Backnang. Doch die Zuhörer sind interessiert, die Sitze und sogar Tische voll belegt und die Erwartungen hoch. Über „die Lage von Politik und Wirtschaft in Deutschland, Europa und der Welt“ werde Edzard Reuter sprechen, so die Ankündigung des Backnanger SPD-Ortsvereins. Diese Erwartung will der einstige Topmanager gleich zu Beginn dämpfen: „Seien sie vorsichtig. Sie haben einen uralten Knacker vor sich“, sagt er über sich selbst. Dass er einer mit klarem Blick, aufrechter innerer wie äußerer Haltung und einer Menge Wissen ist, wird schnell allen klar.

 

Reuter vermisst klare Wertvorstellungen

Eines seiner Themen ist die Situation in der Türkei – kein Wunder, Reuter ist im türkischen Exil aufgewachsen und gerade erst von einem Trip nach Istanbul und Ankara zurückgekommen. „Die Situation in der Türkei ist gespenstisch“, sagt Reuter. Zwar wolle er den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und Adolf Hitler nicht miteinander vergleichen – doch die Stimmung erinnere ihn an die in der Nazizeit: „Sobald drei oder vier Leute dazukommen, traut sich niemand mehr, seine Meinung offen zu sagen.“ Und trotzdem müsse Deutschland auch mit Staatschefs vom Schlage Erdogans oder Wladimir Putins im Gespräch bleiben. „Sanktionen bringen nur langfristig etwas und wirken vor allem auf die dortige Bevölkerung“, sagt Reuter.

Der Westen trage einen Anteil an den jüngsten Entwicklungen am Bosporus: „Die Türkei hatte sich auf den Weg nach Europa gemacht – und wir haben sie zurückgestoßen.“ Wandel durch Annäherung müsse die Devise sein, wie sie Willy Brandt in den 1970er-Jahren propagierte. Apropos Brandt: Am derzeitigen Spitzenpersonal der deutschen Politik vermisst Reuter „eine klare Leitlinie, mutige Führung und Wertvorstellungen, für die es sich zu kämpfen lohnt“. Unter Brandt hätten die Sozialdemokraten noch gewusst, wo sie stehen.

Reuter: „Auch die EU ist als Freihandelsabkommen entstanden“

Passend dazu – oder ist es ein Widerspruch? – ist das zweite große Thema: das deutsch-kanadische Freihandelsabkommen Ceta, das möglicherweise am Widerstand zweier belgischer Regionen scheitert. Reuter plädiert für das Abkommen: „Ich wehre mich gegen die Vorstellung, dass der Freihandel nur den Interessen irgendwelcher finsterer Kapitalisten nutzt“, sagt er. Schließlich sei auch die Europäische Union einst als Freihandelsabkommen entstanden – „und ohne sie ständen wir heute als isolierter Nationalstaat da.“

Das überzeugt aber nicht alle Zuhörer: „Mir fehlt das Vertrauen in unsere Politiker, dass sie die 1600 Seiten des Abkommens wirklich gelesen haben“, meint einer. Dieses Vertrauen in die gewählten Vertreter, entgegnet Reuter, müsse man aber in einer repräsentativen Demokratie haben. „Und hätten wir darüber eine direkte Volksabstimmung, würden auch nicht alle Verantwortlichen die 1600 Seiten lesen“, wendet er ein. Dennoch ist zu spüren: Nicht allen der SPD-Mitglieder im Raum behagt das Ceta-Abkommen – und dass es von Sozialdemokraten vorangetrieben wird.

Edzard Reuter kann bestimmt damit leben – er war und ist eben ein Mann der Gegensätze: Engagierter Sozialdemokrat und als Daimler-Boss für die Konzernzentrale verantwortlich, die von seinem Nachfolger als „Bullshit Castle“ geschmäht wurde. Mit seiner Frau hat er eine Stiftung zur Völkerverständigung gegründet – in seiner Zeit wurde der Autobauer zum Rüstungsriesen. Reuter bemängelt, dass Autokäufern ein dickes Fahrzeug lieber sei als ein Elektroauto – und damals war er mitverantwortlich für äußerst sprithungrige Limousinen. Doch auch das ist wohl eine Botschaft des Abends: „Es gibt zu viel Schwarz-Weiß-Denken“, so Reuter.

Über Edzard Reuter

Vater
Edzard Reuter wurde 1928 als Sohn engagierter Sozialdemokraten geboren. Nach der Machtergreifung der Nazis ging die Familie ins türkische Exil. Nach dem Kriegsende kehrte sie zurück. Der Vater Ernst Reuter wurde während der Blockade Berlins als Bürgermeister der Stadt mit den Worten „Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt“ berühmt.

Leben
Edzard Reuter studierte Mathematik, Physik und Jura. Nachdem der überzeugte Sozialdemokrat in den 1950er-Jahren erfolglos versucht hatte, bei Daimler unterzukommen, arbeitete er zunächst für Filmproduktionsfirmen. 1964 stellte Daimler ihn ein. Dort arbeitete er sich hoch: Von 1987 bis 1995 war er Vorstandsvorsitzender. Er verbreiterte die Unternehmensbasis – ein teures Unterfangen, das ihm viel Kritik einbrachte