Er übergoss sich mit Benzin und zündete sich in der Tübinger Innenstadt an. Das Leben des Baratali Yazdani, der vor zehn Jahren als Asylbewerber aus dem Iran gekommen war, endete tragisch.

Böblingen : Ulrich Stolte (uls)

Tübingen - Noch hängt, in eine Folie verpackt, der Nachruf auf Baratali Yazdani an einer Platane hinter der Tübinger Stiftskirche. Hier hat sich der 49-jährige Iraner mit einer Selbstverbrennung ums Leben gebracht.

 

Eine Woche nach seinem Tod trafen sich dort Freunde und Bekannte zu einer Trauerfeier, zündeten Kerzen an, versuchten, die Tat zu verstehen. „Sein Tod ist eine Folge der verfehlten Asylpolitik, die einen Menschen in den Mühlen der Bürokratie zerbricht“, hörte man von den Asylaktivisten. „Er hatte keinen Grund, sich zu töten“, erklärte die zuständige Polizeidirektion in Reutlingen. „Er war anerkannter Flüchtling, er hätte arbeiten können, es gibt auch keinen Abschiedsbrief.“

Wer war Baratali Yazdani alias Kaveh Pouryazdani alias Ali Yazdani, wie es in seiner Gerichtsakte heißt? Warum starb der Mann, der am 23. November 1964 im nordiranischen Bojnurd geboren wurde, am 20. Februar 2014 in der Innenstadt von Tübingen? Nur wenn man sein Leben kennt, kann man seinen Tod verstehen.

Yazdani entstammte einer kurdischen Bauernfamilie. Er war 14 Jahre alt, als die Islamische Revolution über das Land ging. Er erlebte, wie sich der Staat von einer diktatorischen Monarchie in einen fundamentalistischen Gottesstaat wandelte, wie Menschen gefoltert und hingerichtet wurden. Dann griff der Irak den Nachbarstaat an, der Krieg dauerte acht Jahre. Das Land verarmte, ein Exodus von Iranern begann. Yazdanis erste Migration führte ihn als Gastarbeiter nach Japan. In diesen drei Jahren lernte er Konstruktionszeichnungen umzusetzen und wurde etwas, was man in Deutschland einen Industriemeister nennen würde. Er kehrte in den Iran zurück, wurde Vater einer Tochter, die heute 19 Jahre alt ist. Er wollte dort eine Firma gründen, scheiterte aus Geldmangel. Er kam in seinem Land nicht mehr zurecht.

Im Tübinger Asylzentrum in der Neckarhalde kickern die Nachbarskinder. Die Männer auf den schwarzen Ledergarnituren schlagen die Zeit tot, weil sie nicht arbeiten dürfen. Vielleicht schlägt die Zeit auch sie tot. Sam*, ein junger Iraner, dessen Haare so glänzen wie seine schwarzen Augen, hat Yazdanis Tochter am Display eines Smartphones weinen sehen, als er zusammen mit dessen Cousin die Todesnachricht übermittelte. Sie wollte es nicht glauben. Beharrte darauf, er müsse ermordet worden sein. Aber Sam weiß es besser.

Über sein Leben im Iran redete er nicht gerne

Drei Jahre hauste Sam im Wohnheim. „Kein Hund will so leben“, sagt er, „die Wände sind schimmlig, es ist schmutzig.“ Aber das war nicht das Schlimmste. Er ist nach Deutschland gegangen, weil er frei sein wollte, doch er fühlte sich in Deutschland genauso unterdrückt wie im Iran. „Ich durfte nicht arbeiten, nicht reisen, kein Geld verdienen. Drei Jahre konnte ich nichts tun, nichts aufbauen“, sagt Sam. „Drei Jahre meines Lebens sind einfach weg.“ Bei Yazdani waren es zehn Jahre.

Unter dem falschen Namen Ali Yazdani reiste er 2004 nach Deutschland ein. Als Grund für seine Flucht gab er an, linksgerichtete Flugblätter verteilt zu haben und deswegen verfolgt zu werden. Vielleicht ist es wahr, vielleicht nicht. Über sein Leben im Iran redete er nicht gerne. Die Behörden wollten Papiere sehen. Er weigerte sich, seine richtigen Personalien anzugeben. Sein erster Asylantrag wurde abgelehnt, aber Yazdani erhielt eine Duldung, die er alle drei Monate auf dem Ausländeramt in Tübingen verlängern lassen musste. Ein brüchiger Status einer brüchigen Existenz.

So allerdings hat sich Baratali Yazdani damals nicht gesehen. Im Gegenteil, er legte seinen ersten falschen Namen ab und gab sich einen zweiten: Kaveh Pouryazdani nannte er sich jetzt nach dem Schmied Kaveh Ahangar, einem persischen Helden, vergleichbar mit dem Siegfried der deutschen Heldensage. Unter diesem Namen begann sein Leben als Exilkämpfer für die Menschenrechte im Iran.

Mit seinem Infostand vor der Tübinger Stiftskirche gehörte er bald zum Stadtbild. Man machte einen Bogen um ihn, um nicht die grässlichen Bilder von Folteropfern sehen zu müssen, die er in einer Art Postkartenhalter präsentierte. Einer dieser vielen Spinner, dachte man, aber das war ein Irrtum. Yazdani lernte Deutsch, um hier gegen die iranische Regierung agitieren zu können. Wenn es ihm gelänge, die Deutschen aufzurütteln, würden sich die Verhältnisse im Iran irgendwann bessern, glaubte er. Er war doch Kaveh, der mythische Held, der von Dorf zu Dorf zog, sein Volk hinter sich versammelte, um es von einem grausamen Tyrannen zu befreien.

Vier Jahre ging das so, dann konnte er die Sammelunterkunft verlassen und in ein Tübinger Wohnprojekt einziehen. Seine Mitbewohner erinnern sich an den ernsten Menschen, der den Kopf mit dem schütteren braunen Haar immer leicht schräg hielt. Er konnte ihnen aber auch Geschichten erzählen, lachen, wenn sie im Hof auf breiten Metallstangen Hackfleisch grillten.

„Kaveh war einer der typischen Wirtschaftsflüchtlinge aus dem Iran“, sagt Ferhat*. Er ist ein gelassener rundlicher Mann, der sich mit einer kleinen IT-Firma über Wasser hält. Er spricht perfekt Deutsch, genießt hohes Ansehen unter den Auslandsiranern. Er kam 1984 ins Land, als die iranische Mittelschicht vor Ajatollah Khomeini floh. Wie ist das, wenn man 30 Jahre im Exil lebt? Ferhat holt aus seiner Laptoptasche einen karierten Block, zeichnet einen Baum. „Das bist du!“ Er zeichnet einen Seitenast: „Das ist deine iranische Identität.“ Er zeichnet einen neuen Ast: „Das hier ist deine deutsche Identität. Und das hier ist deine Identität als Asylbewerber.“ Er zeichnet weitere Striche von weiteren Identitäten in das Bild, das unter seinen Händen zum Diagramm eines vorhersehbaren Todes wird. „Das hängt alles zusammen, aber du darfst deine eine Identität nie mit der anderen Identität vergleichen. Du darfst nie zwischen diesen Welten hin- und herspringen, sonst zerreißt es dich.“

Der Tod am Holzmarkt

Er geht zu der Platane hin, an deren Stamm die Fotografie von Baratali Yazdani geheftet ist. „Er konnte das nicht, er konnte sein Leben im Iran nicht abschließen.“ Oft habe er von Selbstmord gesprochen. „Ich ehre seinen Tod“, sagt Ferhat. Als er eine Kerze vor der Platane niedersetzt, bricht es aus ihm heraus: „Er war kein schlechter Kerl, sonst hätte er doch so etwas nicht getan!“

Ferhat bezeichnet sich als politischen Mentor von Kaveh, den er zu der monarchistischen Partei CPI brachte, die wieder einen Schah an die Macht bringen will. Ferhat zeigte ihm die Welt des Internets, er warnte ihn aber nicht davor, dass man sich in dieser Welt verlieren kann. Mit Schwung stürzte sich Yazdani in eine Welt des Wissens, sammelte Zitate von Bismarck und Max Weber. Er war empfindlich geworden und verteidigte seine Ideen bis aufs Äußerste, löschte missliebige Kommentare, verstritt sich selbst mit seinen besten Freunden, wenn es um Politik ging. Die Partei nutzte Yazdanis Rede- und Organisationstalent. Fast täglich postete er in dem Internetforum der Partei zur aktuellen politischen Lage im Iran.

„Ich will, dass sich die Menschen bewegen“, sagte Yazdani. „Dann bewege dich selbst“, sagte Ferhat. „Ich will, dass die Menschen aufwachen“, sagte Yazdani. „Bist du schon aufgewacht?“, fragte Ferhat.

Ein zweites Asylverfahren begann vor sechs Jahren. Yazdani machte geltend, dass er Monarchist geworden sei. Doch die Monarchisten werden im Iran toleriert. Sein Antrag wurde abgelehnt, seine erste Anwältin konnte nichts mehr für ihn tun und legte schließlich das Mandat nieder.

Die Kanzleifassade in der Tübinger Südstadt könnte ein paar Eimer Farbe vertragen. Doch der Anwalt kommt schwer zu seinem Geld. Manche Asylbewerber zahlen in Raten, manche gar nicht. Der Anwalt blättert fahrig in dem Ordner. Bündel von Kopien klatschen auf den Aktendeckel. Das bleibt von einem Menschen: eine Akte und ein Grabstein. Der Anwalt kaut an den Nägeln, zieht die Urteile heraus. „Sie müssen mit den deutschen Behörden zusammenarbeiten“, sagte der Anwalt dem misstrauischen demoralisierten Yazdani.

Die Taufe als letzte Hoffnung

Sie versuchten es mit einer Handvoll Wasser. Im Iran ist es verboten, zum Christentum überzutreten, Yazdani hätte mit Strafverfolgung rechnen müssen. Die Taufe war also eine Notlösung, um hier blieben zu können. Im Sommer 2013 wurde er in einer kleinen Gemeinde in Dornstetten, wo viele Iraner sind, zum Christen. So begann sein drittes und letztes Leben, das kürzeste. Kaveh Pouryazdani nahm seinen dritten Namen an, jenen Namen, den ihm Vater und Mutter gegeben haben: Baratali Yazdani. Im August erhielt er seine Anerkennung als Flüchtling – aber nun nicht wegen seiner neuen Religion, sondern tatsächlich wegen seiner politischen Tätigkeit im Exil.

Im September bekam er die Arbeitserlaubnis. Aus dem Volksbefreier Kaveh, war Baratali, der Flüchtling, geworden. Und während Kaveh einen Lebenssinn hatte, wurde Baratali wohl einfach müde.

Die Polizei hat keinen Abschiedsbrief gefunden, aber vielleicht gibt es doch so etwas Ähnliches. Hansjörg Ostermayer, ein grauhaariger Mann mit tiefblauen Augen, bringt Einwanderern Deutsch bei. Der sensible Mann gibt sich eine Mitschuld. Er hätte die Anzeichen auf einen Suizid spüren müssen, glaubt er. Wie viele Lehramtsstudenten seines Jahrgangs hatte er keine Chance auf eine staatliche Anstellung. Auch er fühlte sich vom System abgestoßen, blieb auf sich alleine gestellt. Als sich Baratali meldete, erkannte ihn Ostermayer sofort wieder: „Du bist doch Ali? Du hast doch vor zehn Jahren schon einen Kurs gemacht?“

Im Unterrichtsraum hängt jeder Kursteilnehmer einen Lebenslauf und ein Bild aus seiner Heimat auf. Baratali Yazdani hat kein Bild einer iranischen Sehenswürdigkeit ausgewählt. Stattdessen sieht man einen schreienden Mann in einer anonymen Menschenmenge. Darüber steht, was Ostermayer aus Halbsätzen Yazdanis zusammengeschrieben hat. Es ist sein politisches Vermächtnis: „Ich glaube, es ist ein großes Glück, Freiheit und Menschenrechte zu haben. Dieses Glück wünsche ich auch meiner Heimat. Ja, das ist mein größter Wunsch.“

Er lebt noch 15 Minuten

Er wollte jetzt Geld verdienen, Gutes tun, seiner Tochter im Iran eine Ausbildung ermöglichen. Doch alle seine Bewerbungen blieben erfolglos. Baratali Yazdani war zwar anerkannt, aber lebte immer noch am untersten Rand der deutschen Gesellschaft. Vielleicht schlich sich in ihn ein Gefühl ein, das zu den bittersten gehört, die ein Mensch fühlen kann. Das Gefühl, vor seinen Kindern versagt zu haben. Er war zusehends älter geworden, die Bilder aus den letzten Wochen seines Lebens sind kaum vergleichbar mit den Bildern von ihm als Freiheitskämpfer. Jetzt sieht man einen grauen Bart, eingefallene Wangen. Es ging ihm immer schlechter, er suchte Hilfe bei einem Psychologen. „Er wirkte beflissen, wie jemand, dem alles egal ist“, sagt Ostermayer, „Er hat zu viel getrunken“, erinnert sich Sam, sein Freund. Ferhat weiß noch, dass Yazdani sich am letzten Abend mit seinem Cousin getroffen hat, zwei Bier trank und dann nach Hause ging.

Am Morgen seines Todes postet er bei Facebook das Bild einer brennenden menschlichen Fackel, es ist das Bild eines Landsmanns, der sich vor dem iranischen Ölministerium angezündet hat. Dann verlässt er die Wohnung. Gegen elf Uhr stiehlt er an einer Tankstelle Benzin, übergießt sich damit, will sich anzünden. Das Personal rennt nach draußen. Er flieht in Richtung Stadtmitte. Im Hof hinter der Stiftskirche bleibt er stehen. Dann drückt er auf das Feuerzeug.

„Verbrannte Person am Holzmarkt“, heißt es lapidar im Funk der Notrufleitstelle. Weil ständig alle möglichen Falschmeldungen die Leitstelle erreichen, denkt sich die Notärztin nichts dabei, zieht die Gummihandschuhe an und fährt los.

Sie findet einen völlig verkohlten Körper, der auf der Seite liegt. Sie kann den Mund des Sterbenden nicht öffnen. Es ist keine Arterie mehr da, in die sie eine Infusion legen könnte, sie findet eine Stelle unterhalb des Knies, wo sie eine Kanüle in die Knochenhaut drückt, und pumpt die stärksten Schmerzmittel hinein, die sie hat.

Er lebt noch 15 Minuten. Yazdani kann keinen Muskel bewegen, nichts drückt seinen Schmerz aus. Der Tod kommt erst in der Notaufnahme der Berufsgenossenschaftlichen Klinik in Tübingen.

Die Notärztin wohnt am Rande der Tübinger Altstadt. „Wir können unsere Grenzen nicht einfach öffnen“, sagt sie, „aber wir hätten ihn mehr betreuen müssen.“ Sie hat in ihrem Leben alle Arten von verbrannten, zerfetzten, verstümmelten Menschen gesehen. Sie denkt an die vielleicht sieben oder acht Toten, die sie nie mehr in ihrem Leben vergessen wird, und daran, dass in dem verkohlten Körper von Baratali Yazdani das Herz noch schlug und das Gehirn noch arbeitete. Was hat er gedacht, was hat er gefühlt in den letzten Minuten seines Lebens?

* Name geändert.