Klaus Pechstein hat 1969 den kompletten Rhein durchschwommen und lebte dabei vier Wochen lang quasi nur im Wasser. Erinnerungen an ein außergewöhnliches Flussabenteuer.

Rems-Murr/ Ludwigsburg: Martin Tschepe (art)

Linz am Rhein - Fisch schwimmt, Vogel fliegt, Mensch läuft. Das hat Emil Zatopek gesagt, der legendäre tschechische Olympiasieger. Mensch läuft? Der heute 71-jährige Klaus Pechstein aus Linz am Rhein hat Zatopeks Worte längst widerlegt: Pechstein lebte vor 43 Jahren gut vier Wochen lang quasi im Wasser. Er ist der erste und bis dato wohl auch einzige Mensch, der den Rhein schwimmend bezwungen hat.

 

Klaus Pechstein war am 24. September 1969 am Oberrhein gestartet, in Ilanz im Schweizer Kanton Graubünden. Er kraulte 30 Tage lang in dem Strom, insgesamt gut 1200 Kilometer. Er schwamm komplett durch den Bodensee, umrundete halb Baden-Württemberg an der Süd- und an der Westgrenze und ist dann immer weiter gen Norden geschwommen, durch den Hafen in Rotterdam bis nach Hoek van Holland, wo der Rhein in die Nordsee fließt.

Heute ist Klaus Pechstein ein rüstiger älterer Herr, der seit zwei Jahren zusammen mit seiner – ausgerechnet – 1969 geborenen Tochter Christiane Pechstein ein altes Bauernhaus im Westerwald restauriert. Damals, während seines Marathonschwimmens, begleiteten ihn einen Monat lang tagtäglich ungezählte Reporter, Fotografen und Schaulustige. Am Ende jeder Etappe wurde er mit großem Getöse empfangen. Heute will Pechstein eigentlich nicht mehr im Mittelpunkt stehen.

Eine Falschmeldung im Radio

Kürzlich hörte er im Radio einen Beitrag, in dem es hieß, die Organisation Schweiz Tourismus unterstütze den Extremsportler und Wasserbotschafter Ernst Bromeis, der als erster Mensch überhaupt den Rhein komplett durchkraulen werde. Diese Falschmeldung hat den wahren Rekordschwimmer Pechstein schon ein bisschen gefuchst. Öffentlich zu Wort gemeldet hat er sich trotzdem nicht. „Ich dachte mir: der Erste ist Bromeis nicht, aber vielleicht wird er ja der Schnellste.“ Doch auch daraus ist nichts geworden. Der Schweizer Ernst Bromeis musste seinen Versuch bereits nach rund 400 Kilometern abbrechen, an der badisch-französischen Grenze hinter Breisach war Schluss.

Eigentlich hatte Bromeis am 31. Mai dieses Jahres, fast genau einen Monat nach dem Start, die Meeresmündung des Rheins erreichen wollen. Geplant waren Tagesetappen von rund 50 Kilometern. Das Flusswasser war aber in diesem Frühjahr kälter als sonst. Sorge um die Gesundheit des Schwimmers, der bereits nach einigen Tagen zeitweise in ein Kajak hatte umsteigen müssen, lasse eine Weiterführung des Projekts nicht mehr zu, hieß es seitens der Schweiz Tourismus.

Ernst Bromeis zeigt sich nun zerknirscht. „Ich habe die Bedingungen falsch eingeschätzt“, sagt er, und dass er selbst nie behauptet habe, dass er als erster Mensch den gesamten Rhein durchschwimmen werde. Er habe von Klaus Pechsteins 43 Jahre zurückliegender Heldentat schlichtweg nichts gewusst.

Der Weg zum Rekordversuch

Der vergessene Rheinschwimmer wollte eigentlich eisern schweigen. Es hat einiger Überredungskünste der Tochter bedurft. Dann hat sich der gelernte Silberschmied Pechstein breitschlagen lassen, seine Geschichte noch einmal zu erzählen.

Kurt Pechstein sitzt im Hotel Friends in seiner Heimatstadt Linz, direkt am Rheinufer. Von der Terrasse aus haben die Gäste den Fluss im Blick. Auf dem Rhein fahren alle paar Minuten große Transportschiffe vorbei. Der drahtige Herr im Rentenalter hat noch immer dichtes Haar. Pechstein ist fit, trägt ein weißes Hemd, ein Jackett und fast immer ein Lächeln im Gesicht. Vor ihm auf dem Tisch liegen alte Fotos vom Rheinschwimmen anno 1969 und viele Dutzend vergilbte Zeitungsausschnitte. Von nahezu jedem Tag im Rhein gibt es mehrere Berichte. Viele Lokalzeitungen waren vor Ort, aber auch größere Blätter wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und Magazine wie der „Stern“. Auf den Bildern lächelt ein jugendlicher Klaus Pechstein aus seinem Taucheranzug. Mal trinkt er im Rhein feixend und auf dem Rücken treibend ein Bierchen, mal zieht er genüsslich an einer Zigarette.

Pechstein erzählt von seiner Kindheit in Linz, vom Training mit den Kumpels vom örtlichen SC und vom Schwimmverein in Schwäbisch Gmünd, wo er später einige Jahre wohnte. Bleibt die Frage: Wie kam er auf die wahnwitzige Idee, den Rhein komplett zu durchschwimmen?

Wo Wasser ist, da schwimmt Pechstein

Für die Antwort holt Pechstein weit aus. Am 16. Februar des Kriegsjahres 1941 wird er im Zeichen des Wassermanns in Linz am Rhein geboren. Mit fünf Jahren lernt er schwimmen – im Fluss. Bald gelingt es ihm, von Linz an das andere Rheinufer nach Kripp und wieder zurück zu kraulen. An den Wochenenden läuft er oft mit Freunden auf dem Rheinpfad stromaufwärts, steigt ins Wasser und schwimmt heim. Manchmal gelingt es den Wasserratten, den Kapitän eines Schleppkahns zu überreden, sie ein Stück mitzunehmen. Dann gehen die Jugendlichen an Bord, fahren mal 20 Kilometer, mal 30 Kilometer mit, springen von Deck und kraulen zurück.

Ende der 50er Jahre beginnt Klaus Pechstein seine Lehre zum Silberschmied. Den Abschluss macht er an einer Schule in Schwäbisch Gmünd, wo er die Hildegard kennenlernt, die Frau seines Lebens. Mittlerweile ist er ein durchtrainierter Langstreckenschwimmer. Er schafft die Königsdisziplin der Beckenschwimmer, die 1500 Meter Freistil, in gut 18 Minuten – eine Zeit, von der auch heute die meisten Triathleten nur träumen können. Klaus Pechstein sagt: „Wo Wasser war, da bin ich geschwommen.“

Ganz egal, in welcher Gegend er Urlaub macht: immer krault er viele Kilometer weit, etwa im Gardasee oder im River Medway im britischen Sussex. Nach diesem mehrtägigen Testschwimmen in Südengland, das seine Schwester begleitet, steht fest: Im vertrauten Rhein will er einen Rekordversuch wagen, den Fluss von der Quelle bis zur Mündung durchschwimmen. Pechstein findet mit den Firmen Metzler und Barakuda zwei Sponsoren, die die Ausrüstung stellen und die Kosten für das Begleitboot, einen Kleinbus und die Helfer übernehmen.

Unterwegs im stinkenden Rhein

Eigentlich will Pechstein im Hochsommer schwimmen, wegen der Temperaturen. Doch der Start verzögert sich. Erst Ende September 1969 steigt er bei Ilanz in den Oberrhein, das Wasser hat keine zehn Grad. Gleich zu Beginn muss er Treibholz umrunden, an einem Felsbrocken verletzt er sich am Arm. Er beißt die Zähne zusammen, schafft am ersten Tag 53 Kilometer, am zweiten sogar 60. Pechstein schwimmt im Nebel und bei einbrechender Dunkelheit, durch Stromschnellen und Schleusen. Nur den Rheinfall bei Schaffhausen passiert er zu Fuß am Ufer.

Er ernährt sich tagsüber fast ausschließlich von Haferflocken vermischt mit Milch und Ei. Abends im Hotel lässt er sich aber deftiges Essen servieren – und Bier. Bis Basel ist das Wasser recht sauber, „danach wurde es aber immer schlimmer“, erzählt Pechstein und liest grinsend aus einem der alten Zeitungsberichte vor: „Manche Fischer vermuten, er sei das einzige noch lebende Wesen im Rheinwasser.“ Damals werden die Fäkalien und die Industrieabwässer noch unbehandelt in den Fluss geleitet. Der Rhein stinkt zum Himmel.

Pechsteins längste Tagesetappe ist jene zwischen Kehl und Karlsruhe: 74 Kilometer. Es lässt sich nicht vermeiden, dass er ab und an Rheinwasser schluckt. Bei Mannheim bekommt der Marathonschwimmer Probleme: Magenschmerzen mit Erbrechen und Durchfall. Er krault trotzdem weiter. Bis Ende Oktober nimmt Pechstein fast zehn Kilogramm ab, bereits nach zwei Wochen sitzt der Taucheranzug nicht mehr richtig.

Der Anzug scheuert ihm die Haut an beiden Schultern auf, noch heute sind die Narben dieser Verletzungen zu sehen. Auch die allabendlichen Empfänge und Feste setzen Pechstein ordentlich zu. „Wenn ich allein unterwegs gewesen wäre, ich hätte wohl aufgegeben.“ Doch wegen all des Trubels, wegen der vielen Berichte in den Zeitungen, wegen der Wasserschutzpolizei, die mittlerweile auch ein Begleitboot stellt, schwimmt er weiter. Immer weiter.

Im Taucheranzug ins Restaurant

Manchmal krault Pechstein am vereinbarten Zielpunkt versehentlich vorbei. In Koblenz steigt er aus dem Wasser, erkennt, dass er am falschen Ort ist und geht ungerührt mit seinem Taucheranzug bekleidet in ein Hotel zum Essen. Besonders viel Beifall bekommt Pechstein in seinem Heimatort. Er wird vom Linzer Bürgermeister, von einem Landtagsabgeordneten, von Unternehmern, von zahlreichen Bürgern und von seiner Gattin mit der kürzlich geborenen Tochter auf dem Arm empfangen. Er verbringt eine Nacht im heimischen Nest, dann wird ihm für den Rest der Strecke „zur inneren Erwärmung“ ein Fläschchen guter Kognak zugesteckt.

Im niederländischen Rheindelta bereiten dem Schwimmer die Gezeiten der Nordsee Probleme. Bei auflaufendem Wasser kommt Pechstein viel langsamer als erwartet voran. An den letzten beiden Tagen startet er deshalb früh am Morgen gegen vier Uhr bei Ebbe. Die Strömung treibt ihn voran. Schließlich erreicht Pechstein sein Ziel Hoek van Holland – am 23. Oktober um 17.23 Uhr, eine Woche später als geplant. Die Stadt Rotterdam bereitet ihm einen großen Empfang – und Pechstein sagt: „Ich kann kein Wasser mehr sehen.“

Der nächste Tag beginnt mit Ärger. Eine niederländische Zeitung bezweifelt, dass der Sportler aus Deutschland die 1200 Kilometer tatsächlich komplett geschwommen ist, das sei in 160 Stunden nicht zu schaffen. Bald stellt sich heraus, dass eine Presseagentur versehentlich statt der 260 Schwimmstunden die Zahl 160 vermeldet hatte. Dann kehrt in Klaus Pechsteins Leben endlich wieder Ruhe ein.

Es ist spät geworden an diesem Frühlingstag im Linzer Hotel Friends, 43 Jahre nach dem fast vergessenen Rheinrekord. Klaus Pechstein erzählt, er schwimme heute nur noch selten und niemals in Chlorwasser. „Das vertrage ich nicht mehr“, sagt der Mann, der einst vier Wochen lang im dreckigen Rhein gelebt hat.