Bei einer Fachtagung befassen sich Pädagogen und Polizisten mit Präventionsarbeit für Jugendliche. Die Nachfrage nach Fortbildung zum Thema Radikalisierung steigt laut der Landeszentrale für politische Bildung stetig an.

Lokales: Christine Bilger (ceb)

Stuttgart - Die Organisatoren haben am Freitag im Tagungshotel mal eben 100 Mittagessen nachgeordert: Das Interesse an einer Fachtagung mit dem Titel „Radikalisierungstendenzen junger Menschen in Schulen“ zog ein weitaus größeres Publikum an, als es die Anmeldungen zunächst ahnen ließen. Mehr als 150 Lehrer, Schulleiter, Schulpsychologen und Schulsozialarbeiter beteiligten sich an der Veranstaltung. „Wahrnehmen – deuten – handeln“, dazu sollen die Fachleute befähigt werden, wenn sich entsprechende Tendenzen in ihrem Umfeld bemerkbar machen. Veranstaltet haben die Fachtagung drei Polizeipräsidien, die Abteilung Schule und Bildung des Regierungspräsidiums sowie das Landeskriminalamt.

 

Welche Hintergründe man kennen muss, das machten mehrere Referenten in ihren Beiträgen deutlich. Marwan Abou Taam, Islam- und Politikwissenschaftler am Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz, machte deutlich, dass man in Deutschland häufig falsche Schlüsse ziehe. So halte er die Forderungen, es solle in Moscheen nur noch auf Deutsch gepredigt werden, für absurd: „Davon auszugehen, dass damit ein liberaler Islam einhergeht, ist schlichtweg falsch“, sagte der Wissenschaftler. Der beste Beweis: die einzigen, die in Deutschland ausschließlich auf Deutsch predigen würden, seien ausgerechnet die Salafisten – und diese werden als islamisch-fundamentalistisch und gefährlich eingestuft.

Nicht Religion bestimmt das Handeln – sondern Konflikte

Abou Taams zentrale These ist es, dass nicht die Religion das Handeln bestimmt, sondern der Mensch vielmehr von ethnischen und politischen Konflikten bestimmt sei. So gebe es etwa sowohl bei Kurden und Türken sunnitische Moslems. Diese hätten also den gleichen Glauben, der ethnische Konflikt zwischen ihren Volksgruppen würde sie aber spalten.

Auch machte er deutlich, dass Extremist nicht gleich Extremist ist. Ein Beispiel seien die beiden in Syrien agierenden Gruppen Islamischer Staat und Al-Nusra-Front: Im weitesten Sinne seien beide Nachfolger von Al Quaida. Dennoch würden sie keinesfalls gemeinsame Sache machen. Jede extremistische Gruppierung würde für sich in Anspruch nehmen, die einzig wahre Auslegung des Glaubens umsetzen zu wollen. Zur genauen Einschätzung einer Gruppe helfe immer ein Blick auf die Geldgeber: „Himmlische Versprechen kosten immer irdisches Vermögen.“ Kenne man diese, wisse man oft, welche Interessen vertreten werden, so Marwan Abou Taam.

Um Jugendliche mit Migrationshintergrund unanfällig für radikale Gruppen zu machen, müsse es das Ziel aller an der Erziehung Beteiligten sein, junge Leute zu integrieren, so dass sie sich als Deutsche und Moslems fühlen würden. „Eine Identität der Kinder, die auf Segregation gründet, ist zu schwach“, so Abou Taam.

In den Pausen zwischen den Impulsvorträgen und Workshops tauschten sich vor allem die Lehrer aus. „Und, gibt es das bei Euch?“ war die Frage, die aus mehreren Ecken zu hören war. Die meisten verneinten das, berichtet eine Politiklehrerin. Dennoch: sie wollen Bescheid wissen, damit sie im Zweifelsfall einschreiten können, wenn sich bedenkliche Tendenzen an ihren Schulen breitmachen würden.

Nachfrage an Weiterbildungen zu Radikalisierung steigt stetig

Die Nachfrage nach Fortbildungen zur Radikalisierung junger Menschen sei ungebrochen, das bestätigt auch Sheena Anderson von der Landeszentrale für Politische Bildung. Ihre Institution präsentierte das Programm Team meX, dass sich an Lehrer und Multiplikatoren in sozialen und Bildungseinrichtungen wendet. „Wir haben von Anfang an zwei Schwerpunktthemen“, erläutert Anderson: Rechtsextremismus einerseits und Islamismus andererseits. „Man merkt immer, dass nach einzelnen Ereignissen die Nachfrage steigt – etwa nach dem Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo oder nach den Anschlägen von Paris im vergangenen November. „Aber auch unabhängig davon bemerken wir eine stetig steigende Nachfrage“, so Anderson. So habe es im gesamten Jahr 2015 rund 220 Veranstaltungen zu den beiden Themen gegeben. Im Jahr 2016 sei man Ende Mai schon bei Anmeldungen und Terminen für 173 Veranstaltungen – und ein Ende sei noch nicht abzusehen.