Im Stuttgarter Opernhaus hat der Ballettabend „Fahrende Gesellen“ Premiere gefeiert, mit neuen Arbeiten von Demis Volpi und Edward Clug. Ein starker Abend, an dessen Gelingen auch das Staatsorchester unter James Tuggle großen Anteil hat.

Stuttgart - Das prasselnde Geräusch von Spitzenschuhe, die unerbittlich auf den Bühnenboden hämmern, hat längst aufgehört. Dennoch bleibt auch nach dem langen Applaus das Unbehagen, das neben den Spitzenschuhen auch die sich immer wieder in Wellen aufbauenden Bassklänge in „Aftermath“ hinterlassen haben. Sie spielen in Michael Gordons gleichnamiger Komposition eine wichtige Rolle. Das Auftragswerk für das Stuttgarter Ballett hat am Gründonnerstagabend seine Uraufführung erlebt – genauso wie die dazu von Demis Volpi geschaffene Choreografie und Edward Clugs Tanzstück „No men’s land“ . Doch zurück zu den Spitzenschuhen: Sie faszinieren Demis Volpi, wie er selbst sagt, als Instrument, dessen Möglichkeiten er als Choreograf noch weiter ausloten möchte. Sie kommen im Verlauf von „Aftermath“ oft zum Einsatz. Und zwar keineswegs, um die Tänzerinnen als ätherische Feenwesen erscheinen zu lassen, was zum Zeitpunkt ihrer Erfindung vor knapp zweihundert Jahren ihre Aufgabe war. Vielmehr setzt Volpi sie als Ausdrucksmittel für Aggression, Härte und Bedrohung ein. Das englische Wort „Aftermath“ beschreibt die Nachwirkungen von etwas. Beispielsweise die Folgen eines Krieges – oder den Zustand, der eintreten könnte, wenn Künstler den Kampf gegen ihre künstlerische Freiheit aufgeben oder verlieren würden.

 

Die Dramatik dieser Vision vermittelt sich mit durch Mark und Bein gehender, erschütternder Wucht durch den ersten, nicht enden wollenden Akkord, der das darauffolgende Geschehen auslöst. Dicht gefügte, massive Chromatik, aufgerissen durch scharfe Klangfarbenakzente, hinterlässt ein beklemmendes Gefühl von Gewalt und Zerstörung. Die Gestalt der Solistin Hyo-Jung Kang ist zunächst auf der Bühne im schwachen Lichtkegel kaum auszumachen. Sie bewegt sich geschmeidig und expressiv, zeichnet mit ihrem Körper Spiralen, positioniert sich auf immer wieder neue Weise im Raum, liefert sich weit zurückgebeugt allem aus, was sie umgibt. Das ist zunächst Leere. Doch da tauchen aus dem Nichts fünf graue Gestalten auf, die sie umringen. Deren Bewegungen sind bar jeder emotionalen Regung, kälter und unerbittlicher als die von Maschinen.

Eine überdimensionale Erektion erzeugt Heiterkeit

Kontraktionen des Rumpfes katapultieren die zu reglosen Fratzen geronnen Gesichter in die Richtung der sich fortwährend hinreißend schön bewegenden Tänzerin. Das debile Kopfschütteln der Grauen erregenden Gestalten ist dabei Ausdruck einer entsetzlichen Gleichgültigkeit. Immer mehr werden es, die ungerührt aber zielgerichtet versuchen, die Solistin ihrer Masse einzuverleiben. Gleich einem giftigen Gewächs vermehren sie sich unaufhaltsam. Ohne jede erkennbare Aggression – die eisige Teilnahmslosigkeit ist ungleich schlimmer. Am Schluss ist die Solistin, als einzige in warme Farben gewandet (Kostüme: Katharina Schlipf), verschwunden. Die Bühne bleibt leer. Nur das Prasseln der Spitzenschuhe wird lauter wird – bis es abbricht. Das Thema von „Aftermath“ ist nicht neu. Aber Demis Volpi hat es auf sehr eindrucksvolle Weise umgesetzt.

Sind zum Schluss des neuen Ballettabends nur Frauen auf der Bühne, widmet Edward Clug „No men’s Land“ ausschließlich Männern. Wer das bis dahin noch nicht verstanden hatte, dem hilft bei diesem Stück spätestens das Schlussbild auf die Sprünge: hier schiebt jeweils ein am Boden sitzender Tänzer seinem stehenden Partner einen Arm mit der zur Faust geballten Hand so zwischen die Beine, dass sich die Assoziation zu einer überdimensionalen Erektion wirklich nicht mehr umgehen lässt. Das erzeugt im Zuschauerraum auch Heiterkeit.

Konflikte, Kampf und Krieg

Aber worin zeigt sich das Wesen des Mannes wirklich? Das ist die Frage, welcher der Choreograf zur fünfsätzigen Ballettsuite für Cello und Orchester von Milko Lazar nachgeht. Gedanken des Publikums an Konflikte, Kampf und Krieg sind dabei ausdrücklich vorgesehen. Dem entsprechen die ersten beiden Bilder, in denen sich zu den fordernden Klängen der Musik ein rein männliches Corps de ballet mit freiem Oberkörper (Kostüme: Thomas Mika) gleichgeschaltet und wie fremdbestimmt soldatengleich bewegt. Die Schönheit des männlichen Körpers in Bewegung ist steht beim dritten Satz zu sphärenhaften Harmonien im Mittelpunkt. Wie ein getanztes Fugato mutet dieser Teil der Choreografie an, bei der Mann für Mann aus Nebelwolken tritt, um zeitversetzt die immer gleiche Bewegungsfolge auszuführen. Das fügt sich auf spannende Weise zusammen. Einen besonderen, wenngleich gespenstischen Zauber, besitzt das Bild, bei dem sich 20 Cuts auf Bügeln von der Bühnendecke herabsenken (Licht: Stefan Seyrich-Hofmeister). Die Tänzer umarmen sie von hinten, verbergen ihren Kopf, schweben – an ihnen hängend – über den Boden, wechseln die Plätze, verstecken sich. All das das hat etwas Gruseliges, überrascht, nimmt mit bedrückenden Schönheit gefangen. Erst zum Schluss finden sie sich zu Paaren, üben sich im gegenseitigen Schlagabtausch und Kräftemessen, ahmen einander nach. Louis Stiens bleibt dabei besonders stark in Erinnerung.

Nur mit Tänzern besetzt sind ebenfalls Maurice Béjarts „Lieder eines fahrenden Gesellen“. Am Donnerstagabend tanzten Jason Reilly und Evan McKie das Stück, das auch fast ein Vierteljahrhundert nach seiner Uraufführung in Brüssel seine feine Poesie nicht verloren hat. Klassisch geprägt ist das Bewegungsvokabular. Umso mehr Raum bleibt für die große Ausdruckskraft der beiden Tänzer. Reilly, der mit weichen Linien und berührender Hingabe der Lebensfreude auf der Spur ist, und McKie dessen edle Arabesken und Grand Jetés genau das mit kühler Ästhetik kommentieren. Als Schatten? Als Schicksal, dem der fühlende Mensch nur zögernd folgt? Ein starker Abend, an dessen Gelingen auch das Staatsorchester unter James Tuggle und der Bariton Julian Orlishausen in Gustav Mahlers „Liedern eines fahrendes Gesellen“ großen Anteil haben.

Aufführungen am 25. und 26. April sowie am 7. und 9. Mai.