Statistisch betrachtet verursachen 80-Jährige deutlich häufiger schwere Verkehrsunfälle als 40-Jährige. Bedeutet das, dass Senioren schlechte Autofahrer sind? Ein Besuch bei einem Sicherheitstraining am Glemseck.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Leonberg - Das Alter setzt Karl-Heinz Maier zu. Bald 75 Lebensjahre nagen an seinen Gelenken, diverse Operationen konnten den Verfall nicht stoppen. Mittlerweile besteht sein rechter Oberschenkel größtenteils aus Metall, das Bein ist acht Zentimeter kürzer als das linke. Um den Längenunterschied auszugleichen, trägt Maier einen orthopädischen Schuh mit Plateausohle. Mit dem Quadratlatschen kann er nicht Auto fahren, Maier zieht ihn aus, sobald er sich mühevoll hinters Lenkrad gesetzt hat, und tritt strümpfig auf das Gaspedal und die Bremse. Kürzlich ging beim Anfahren etwas schief: Maier landete mit seinem Volkswagen an der eigenen Hauswand. Der schöne Golf war schrottreif. Weil jemand, der mit einem Reporter offen und ehrlich über solche Probleme redet, nicht bloßgestellt werden sollte, ist Karl-Heinz Maier die einzige Person in diesem Bericht, deren Name geändert wurde.

 

Auf deutschen Straßen fahren immer mehr Senioren. Thematisiert wird diese demografische Binsenwahrheit meistens dann, wenn die Kombination aus Alter und Auto zu einer Tragödie führt. In der vergangenen Woche hat das Bad Säckinger Schöffengericht einen 85-Jährigen zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, weil er einen schweren Unfall verursacht hatte. Zwei Menschen starben, 27 wurden teilweise lebensgefährlich verletzt, weil der Mann bremsen wollte und stattdessen das Gaspedal erwischt hatte. Einmal mehr stellt sich nun die heikle Frage: Kann man zu alt werden für das Autofahren?

Vielleicht findet man eine Antwort auf dem Verkehrsübungsplatz am Glemseck. Vier Teilnehmer haben sich zu dem Seniorenfahrsicherheitstraining des ADAC angemeldet, der dreieinhalbstündige Kurs kostet etwa so viel wie eine halbe Tankfüllung. Karl-Heinz Maier ist in seinem neuen Dacia aus Bad Cannstatt gekommen, mit Gehstützen quält er sich die paar Meter vom Parkplatz in den Schulungsraum und lässt sich auf dem vordersten Stuhl nieder. Der Kursleiter Martin Sasse, 46, fragt in die Runde: „Was führt euch her?“

Die vier Teilnehmer stellen sich vor

Maier berichtet von seinem VW-Totalschaden und dem Dacia, den er seit einer Woche besitzt: „Mein erster Automatik, bisher hatte ich immer Schaltgetriebe. Das ist eine große Umstellung, ich habe immer noch die alten Mechanismen drin.“

Neben ihm sitzt Heidi Kling, 75, aus Sonnenberg. Die Mercedes-Fahrerin hat vor einem Vierteljahrhundert schon mal ein Sicherheitstraining beim ADAC mitgemacht. „Ich dachte, es ist an der Zeit für eine Auffrischung“, erzählt sie. „Zumal es in meinem Bekanntenkreis Leute gibt, von denen ich denke, dass sie nicht mehr fahren sollten.“

Brigitte Brüssel, 65, aus Lauffen ist anstelle ihres Ehemannes gekommen, der sich für den Kurs angemeldet hatte, aber kürzlich gestorben ist. Nun muss die Witwe im BMW die 700 Kilometer nach Bad Segeberg alleine bewältigen, wo sie regelmäßig ihre Tochter besucht: „Mein Mann und ich haben uns ja stets alle anderthalb Stunden hinterm Steuer abgewechselt.“

Zu guter Letzt stellt sich der älteste Teilnehmer vor: Dieter Weihrauch aus Fellbach ist 85, hat als Architekt 2,4 Millionen Kilometer auf europäischen Straßen zurückgelegt und auf dieser gigantischen Wegstrecke nur zwei kleine Blechschäden verursacht. Seit er Kehlkopfkrebs hatte, muss er mit Einschränkungen leben: Weihrauch atmet durch eine operativ angelegte Öffnung der Luftröhre, zum Sprechen schließt er ein davor befestigtes Ventil durch Druck mit dem Zeigefinger. Wenn er hinter dem Lenkrad sitzt, kann er nicht mehr mit seiner Gattin Henny plaudern – „aber dadurch bin ich immer voll auf die Straße konzentriert“.

Die Liebe zum Auto hält bis zum Tod

Jeder Teilnehmer bekommt ein Walkie-Talkie in die Hand gedrückt, dann geht’s raus zu den Autos. Erste Übung, Handlingparcours: wenden, einparken, rückwärtsfahren. Bosch sei Dank gibt es heutzutage Sensoren in den Stoßfängern, die den Abstand zum Hindernis messen, und Rückfahrkameras. Dieter Weihrauch schaut jedoch nicht auf den Bildschirm seines Infiniti, laut Werbung ein „Premium-Performance-Fahrzeug“ – ganz klassisch, mit konzentrierten Blicken in die Außenspiegel, steuert er den 4,87 Meter langen und 1,93 Meter breiten SUV in die Lücke. „Ein 100-Kilo-Mann wie ich braucht ein großes Auto“, sagt er – und: „Einparken war für mich noch nie ein Problem.“ Die Führerscheinprüfung würde er dennoch nicht mehr bestehen, denn den zwingend vorgeschriebenen Blick über die Schulter macht der Hals nicht mehr mit.

Die Liebe zum Auto hält bei Deutschen meistens bis zum Tod. Das gilt zumindest für die Wirtschaftswundergeneration, die mittlerweile den Herbst ihres Lebens erreicht hat. Mit jeder weiteren körperlichen Fessel, die einem das Alter anlegt, gewinnt das Auto noch mehr an Bedeutung: Selbst wer es nicht mehr in die S-Bahn schafft, kann sich meistens noch auf den Fahrersitz seines Pkw plumpsen lassen. Doch wann ist der Punkt erreicht, an dem die Einbußen an geistiger und körperlicher Beweglichkeit nicht mehr durch jahrzehntelange Erfahrung auszugleichen sind?

Übungseinheit zwei: Vollbremsung aus Tempo 50. Karl-Heinz Maier soll losfahren, doch sein Dacia rührt sich nicht von der Stelle, weil Maier das Automatikgetriebe nicht durchschaut – er sucht den ersten Gang. Der Kursleiter Sasse funkt ihn an: „Herr Maier, bitte den rechten Fuß auf die Bremse, dann den Schalthebel auf D, Fuß von der Bremse und Gas geben.“ Der Dacia beschleunigt, bis er den mit zwei Pylonen markierten Punkt erreicht hat, an dem Maier sein Auto möglichst abrupt abbremsen soll. Er benötigt dafür mehr als 30 Meter – die anderen drei Teilnehmer bringen ihre Wagen in weniger als zehn Metern von 50 auf null. Heidi Kling, Brigitte Brüssel und Dieter Weihrauch treten ins Bremspedal, als wollten sie es abbrechen, Maier streichelt es bloß mit seiner rechten Socke, mehr Druck lässt das lädierte Bein offenbar nicht zu.

Was passiert, wenn jemand mit dem Autofahren überfordert ist?

Was passiert hierzulande, wenn jemand mit dem Autofahren überfordert ist und für sich und andere Verkehrsteilnehmer zur Gefahr geworden ist? Nichts. Wer den Führerschein einmal bekommen hat, darf ihn bis zum Ende seiner Tage behalten – sofern er nicht wie im Bad Säckinger Fall einen schweren Unfall verursacht oder zu viele Punkte in Flensburg sammelt. Statt Autofahrer von einem gewissen Alter an zu einem Gesundheitscheck zu verpflichten, setzt die deutsche Politik auf Eigenverantwortung: Jeder darf selbst beurteilen, ob er noch fahrtauglich ist. Die Bundesregierung will es sich nicht mit einer stetig wachsenden Wählergruppe verscherzen und sich nicht dem Vorwurf aussetzen, Alte zu diskriminieren.

Auch Martin Sasse redet problematischen Kursteilnehmern lediglich gut zu, rät ihnen, einen Arzt zu konsultieren oder weitere Fahrsicherheitstrainings zu besuchen. Selbst wenn er es könnte, würde der ADAC-Mann niemandem den Führerschein entziehen. „Meine Aufgabe ist es nicht anzuklagen, sondern auf individuelle Schwächen hinzuweisen“, sagt er. „Und solche Defizite haben häufig nichts mit dem Alter zu tun.“ Kürzlich hatte Sasse in einem Sicherheitstraining einen Mittfünfziger, der mit seinem Opel fast jede Pylone ummähte, während eine hochbetagte Porsche-Fahrerin den Slalomparcours in Sebastian-Vettel-Manier meisterte.

Einzelfälle können aufschlussreich sein, doch was sagen die nüchternen Zahlen? Laut Statistik stellen Menschen über 65 Jahren 21 Prozent der Bevölkerung, sind aber nur für 14 Prozent aller Unfälle mit Personenschäden verantwortlich. Daraus könnte man schließen, dass Senioren sichere Autofahrer sind. Allerdings: Je älter jemand ist, desto kürzere Strecken legt er zurück, das Unfallrisiko pro Kilometer ist bei einem 80-Jährigen folglich deutlich höher als bei einem 40-Jährigen. Und: Sind Menschen ab 75 in einen Autounfall verwickelt, tragen sie in fast drei Viertel der Fälle die Hauptschuld. In dieser Altersgruppe ist zu hohe Geschwindigkeit selten die Unfallursache, dafür kommt es zu verhältnismäßig vielen sogenannten „Vorfahrtsfehlern“.

Das letzte Stück Freiheit

Als Dieter Weihrauch in den fünfziger Jahren seinen Führerschein machte, lernte er noch das Stotterbremsen. Voll in die Eisen gehen? Bloß nicht, hieß es damals, der Wagen könnte ausbrechen. Und heute? Weihrauch kann vor einer Wasserfontäne eine Vollbremsung hinlegen, und sein zwei Tonnen schwerer SUV bleibt trotzdem lenkbar: Antiblockiersystem und elektronisches Stabilitätsprogramm ermöglichen es, dass er das künstliche Hindernis umkurvt und seine Ehefrau Henny auf dem Beifahrersitz die Contenance behält. „Ich weiß, dass er sein Auto im Griff hat“, sagt sie über den Mann, mit dem sie seit 64 Jahren verheiratet ist. Auch die neutrale Instanz, der Fahrtrainer Sasse, spendet Lob: „Herr Weihrauch, das haben Sie super gemacht: Hart gebremst, weich gelenkt, besser geht’s kaum. Wollen Sie nun noch über die Schleuderplatte fahren, um mal zu spüren, wie es ist, wenn die Hinterachse Ihres Autos durch einen gezielten Bewegungsimpuls zum Ausbrechen gebracht wird?“ – „Klar! Wann hat man schon mal die Gelegenheit dazu?“ – „Bei dieser Übung sollten Sie Ihre Gattin aber vorher aussteigen lassen.“ – „Nöö, Henny muss mit.“

Während Dieter Weihrauch sein Auto und seine Frau einem harten Belastungstest unterzieht, hat der elf Jahre jüngere Karl-Heinz Maier den Motor längst abgestellt. Auf dem Beifahrersitz liegen seine Gehhilfen, im Fußraum sein orthopädischer Schuh. Hat er in dem Kurs womöglich selbst erkannt, dass es für ihn besser wäre, sich nicht mehr hinter das Lenkrad zu setzen? „Durch meine Behinderung muss ich bereits auf vieles verzichten“, antwortet Maier. „Das Autofahren will ich nicht auch noch aufgeben.“ Den Führerschein und damit das letzte Stück Freiheit wird er niemals freiwillig abgeben. Bleibt zu hoffen, dass keine Menschen vor Maiers Wagen stehen, wenn beim Anfahren wieder etwas schiefgehen sollte.