Am Jahrestag des Mauerfalls kündigen Wissenschaftler in Berlin Revolutionen an – und stoßen dabei an ihre Grenzen.

Stuttgart - Als die Mauer fiel, war Rachael McDermott acht Jahre alt. Damals habe sie das alles nicht verstanden, sagt die Amerikanerin. Gestern, am 23. Jahrestag des Mauerfalls, stand die junge Wissenschaftlerin in Berlin vor 600 Gästen und erklärte, warum in ihrem Fachgebiet demnächst ebenfalls eine Revolution anstehe. Keine einfache Übung, denn ihr Arbeitsfeld ist die Plasmaphysik und Rachael McDermott standen – wie allen Referenten – nur 15 Minuten zur Verfügung.

 

Die 15 Minuten sind die einzige Grenze, die von den Wissenschaftlern an diesem Tag nicht übertreten werden darf. Das Protokoll der Falling-Walls-Konferenz sieht vor, dass erst jemand ins Mikrofon hüstelt, wenn die Uhr abgelaufen ist, und nach einer weiteren Gnadenminute ein Pantomime auf die Bühne kommt, der charmant, aber bestimmt den Vortrag beendet. Er zieht mit einem Zauberkunststück die Aufmerksamkeit auf sich oder schenkt der Rednerin eine Rose.

Wann kommt die Kernfusion?

Rachael McDermott nutzt ihre Zeit und erklärt mit einigen Schaubildern rasch die Idee der Kernfusion, die im Inneren der Sonne abläuft und die sie auf der Erde nachahmen will. Eine nahezu unbegrenzte und saubere Energiequelle – so lautet die Verheißung. Doch dieses Versprechen ist alt. In der Physik spottet man zuweilen, die Kernfusion werde zwar in 50 Jahren gelingen – doch das sage man schon seit 50 Jahren. Sollte sich das nun tatsächlich ändern?

Das Problem bei der Kernfusion sei die gewaltige Hitze, sagt McDermott. „Stellen Sie sich zehn Millionen Glühbirnen auf einen Haufen vor.“ Die Wände der Fusionskammern seien aus Wolfram gefertigt, weil dieses Material 3000 Grad ertrage, ohne zu schmelzen. Trotzdem geschieht das immer wieder, wie McDermott in kleinen Filmsequenzen vorführt. Vor kurzem haben ihre Kollegen jedoch eine Lösung gefunden, die sie optimistisch stimmt, dass man die gewaltige Hitze eines Tages in den Griff bekommen werde: Wenn man etwas Argon und Stickstoff in die Fusionskammer bläst, sorgen diese Atome dafür, dass die Energie nicht wie üblich konzentriert zum Boden gestrahlt wird, sondern sich in alle Richtungen gleichmäßig verteilt.

Dieser Trick ermöglicht es, einen Fusionsreaktor mit mehr Leistung zu betreiben. Erst kürzlich haben McDermotts Kollegen am Max-Planck-Institut für Plasmaphysik in Garching bei München die Fusion in ihrem Testreaktor mit 23 Megawatt angeheizt – „so viel wie noch nie, weil wir Angst hatten, dass wir damit den Reaktor schmelzen“, sagt McDermott.

Ein Streifzug durch die Wissenschaft

Die Falling-Walls-Konferenz bietet bereits zum vierten Mal an einem Tag – es ist immer der 9. November – 20 solcher Kurzvorträge und damit einen Streifzug durch die Wissenschaft. Die Referenten sprechen frei und können sich an keinem Katheder abstützen. Sie haben bloß eine Fernsteuerung in der Hand, um ihre Bilder und Filmchen zu steuern. Der Organisator der Veranstaltung ist Sebastian Turner, der sich an diesem Tag bloß den Hinweis erlaubt, dass nach seiner Oberbürgermeister-Kandidatur in Stuttgart sein Respekt vor der Arbeit eines Politikers gewachsen sei.

Kritische Töne und nachdenkliche Momente gibt es keine, und so wird der Tag zu einer kurzweiligen und lehrreichen Show. Hal Varian, der Chefökonom von Google, zeigt, wie man das Publikum für sich gewinnt. Er will für die Analyse von Google-Daten werben und fragt in den Saal, an welchem Tag wohl die meisten Menschen verkatert seien. In den USA ist es der Sonntag, zumindest wird dann am häufigsten nach dem Begriff „hangover“ gesucht. Der Tag mit den meisten „vodka“-Suchanfragen ist – wenig verwunderlich – der Tag davor.

Googeln nach dem Arbeitsamt

Damit ist das Prinzip erklärt und Varian kommt zum ernsten Teil seines Vortrags. Er weist nach, dass die Menschen zuerst nach dem Arbeitsamt googlen, bevor sie sich arbeitslos melden. Mit seinen Daten könne man die offiziellen Statistiken ergänzen oder gar verbessern. Was ihn zu diesem gemeinnützig klingenden Angebot treibt, erläutert Varian aber nicht. Er verweist vielmehr darauf, dass auch bei der Kreditkartennutzung und beim Einkauf in großen Warenhäusern Daten anfallen, die sich für ökonomische Analysen eignen.

Doch Varian meistert eine Hürde der Präsentation, an der viele Redner an diesem Tag scheitern. Sie alle haben hübsche Filme mitgebracht und streuen knackige Fakten und Zitate ein. Doch es fällt ihnen sichtlich schwer, sich auf ein Thema und eine Botschaft zu beschränken. Nachdem Rachael McDermott erklärt hat, warum sie zuversichtlich ist, dass ein wichtiges Problem der Plasmaphysik aus dem Weg geräumt sei, kommt sie noch auf ein zweites zu sprechen. Sie muss noch einmal ausholen und kommt am Ende mit den 15 Minuten nicht mehr hin.

Komplizierte Gedankenexperimente

Der Quantenphysiker David Awschalom von der Universität Kaliforniens in Santa Barbara hat seine Mühe, die Besonderheiten in der Welt der allerkleinsten Teilchen zu erklären. Zum Beispiel lassen sich zwei Teilchen so miteinander verbinden, dass die Verbindung bestehen bleibt, wenn sie getrennt werden. Sie seien dann verschränkt, sagen Physiker.

In Awschaloms Gedankenexperiment bleibt eines dieser Teilchen auf der Erde, während das andere zum Mars gebracht wird. „Wenn sie dann den Zustand des Teilchens auf der Erde ändern, dann ändert sich zugleich der Zustand des Teilchens auf dem Mars“, erklärt er. Und als er in die ungläubigen Gesichter des Publikums blickt, fügt er hinzu: „Ja, das ist so.“

Beispielhafte Vorträge: Von Kleidung bis Internet

Kleidung
Der Italiener Nicola Pugno kündigt ein neues Zeitalter an: So wie es die Steinzeit und die Bronzezeit gab, steht nun die Supermaterialzeit an. Es gibt bereits Jacken, deren Oberfläche so aufgeraut ist, dass Wassertropfen abperlen – ein Effekt, den man sich von Lotusblättern abgeschaut hat. Man versucht auch, die besonders elastische und reißfeste Spinnenseide künstlich herzustellen. Und in Pugnos Labor an der Polytechnischen Universität in Turin wird untersucht, wie es Geckos gelingt, kopfüber an der Decke zu laufen. Ihre Füße haften so gut, dass man das Zehnfache ihres Körpergewichts anhängen müsse, damit sie herunterfallen, berichtet Nicola Pugno. Das Experiment gelinge übrigens nur mit männlichen Geckos, weil die Weibchen lange nicht so krampfhaft versuchen, sich festzuhalten.

Sehsinn
Bis vor einigen Jahren habe man geglaubt, dass der Sehsinn eine Einbahnstraße der Nervenimpulse sei, sagt der Neurowissenschaftler Stefan Treue von der Uni Göttingen. Die Sinneszellen des Auges registrieren das Licht, leiten ihre Impulse ins Gehirn weiter, wo sie von spezialisierten Nervenzellen verarbeitet werden. Eine Nervenzelle kann zum Beispiel für die Farbe zuständig sein, eine andere für die Richtung einer Bewegung. Am Ende entsteht daraus das geistige Bild. Diese Theorie sei ins Wanken geraten, sagt Treue und stellt Experimente mit Rhesusaffen vor: Deren Nervenzellen feuern stärker, wenn man den Tieren beibringt, sich auf bestimmte Aspekte eines Bildes zu konzentrieren. Der Geist beeinflusst also die Wahrnehmung, er hebt manches hervor und ignoriert vieles andere.

Internet
In einer Demokratie sollte es voneinander unabhängige Wege der Kommunikation geben, sagt der Österreicher Aaron Kaplan. Er bastelt an einem offenen und kostenlosen WLAN-Netzwerk, dem Funkfeuer.at. Kaplan sucht Mitstreiter, die einen WLAN-Router auf ihrem Dach installieren und ihn mit mindestens zwei benachbarten Routern verbinden. Die Daten suchen sich dann ihren Weg von einem Router zum nächsten bis zum Empfänger. Bei schlechter Funkverbindung oder in Regionen, die von einer Naturkatastrophe verwüstet wurden, sei das eine gute Alternative. „Und denken Sie an die arabische Revolution“ sagt Kaplan. „Alle sprachen damals über Facebook, aber Facebook ist ein zentralistisches System.“ Wenn man nicht ins Internet komme, nütze Facebook nichts.