Live-Rollenspiel-Fans galten lange als verschroben und schräg. Bei einem der größtem Fantasy-Festival in Deutschland, dem Drachenfest im hessischen Diemelstadt, kämpfen 4500 Spieler um die Herrschaft in der Fantasiewelt Aldradach.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Diemelstadt - Geschäftiges Treiben auf der Hauptstraße der Handelsstadt Aldradach, der Festinsel der Drachen. Es ist die Zeit der zweiten Drachenwelt. Es wird gefeilscht, gelacht, gestritten getrunken. Plötzlich verstummen alle und springen zur Seite. Eine Truppe Orks bahnt sich ohne Rücksicht auf Verluste den Weg durch die Gasse, mit Schwertern, Fahnen und lautem Gebrüll. Wilde, dunkle Kreaturen mit scharfen Zähnen. „Alter Schwede. Krass“, sagt eine Händlerin leise.

 

„Die Ära der Menschen ist vorüber, die Zeit der Orks ist gekommen“

Die Szene entspringt keinem Fantasyfilm. Sie geschieht tatsächlich beim 14. Drachenfest, das zum zehnten Mal im nordhessischen Diemelstadt, einem der größten Live-Rollenspiel-Festivals in Deutschland. „Live Action Role Playing“ oder Live-Rollenspiel (LARP) nennt sich das Spektakel. Von Mittwoch (26. Juli) bis Sonntag (31. Juli) wird hier eine riesige Wiese zur Fantasiewelt mit Mittelalterbezug. Kämpfen düstere und lichte Gestalten um die Herrschaft in Aldradach.

Ehemalige Raketenstellung wird zum Fantasy-Schlachtfeld

Die rund 4500 Teilnehmer kommen aus Europa, Amerika oder Australien. Orks kämpfen gegen Elfen oder verschiedene Drachen-Lager untereinander, Gute gegen Böse, Weise gegen Dämliche, Mutige gegen Feige, Hässliche gegen Schöne.

Austragungsort ist der „Quast“ bei Diemelstadt-Rhoden, eine ehemals militärisch genutzte Raketenstellung, umgeben von fast 40 Hektar großen Wiesenflächen inmitten eines Waldgebietes. Ideal geeignet für die Schlachten zwischen den Heeren der Menschen, Zwerge, Orks, Zauberer und Trolle.

J. R. R. Tolkien und das Fantasy-Universum

Wer verstehen will, was in dem 5212-Einwohner-Städtchen Diemelstadt jedes Jahr zur Sommerzeit abgeht, muss in die Fantasywelt von John Ronald Reuel Tolkien (1892-1973) eintauchen. 1954/55 veröffentlichte der Professor für englische Sprache an der Universität von Oxford seine Roman-Trilogie „Der Herr der Ringe“ – „The Lord of the Rings“ . Eines der erfolgreichsten Bücher des 20. Jahrhunderts, das die moderne Fantasy-Literatur begründete.

Auch der einleitende Satz „Die Ära der Menschen ist vorüber, die Zeit der Orks ist gekommen“ stammt aus dem Fantasy-Großwerk. Er stammt von Gothmog, Statthalter des Hexenkönigs in Minas Morgul, der nach dessen Tod den Oberbefehl über die Armee vor Osgiliath und Minas Tirith übernimmt.

Sie erinnern sich? Der dritte Teil der „Herr-der-Ringe“- Filmtrilogie von Regisseur Peter Jackson aus den Jahren 2001 bis 2003. „Die Rückkehr des Königs“. Vor der großen Stadt Gondor tobt die Schlacht auf dem Pelennor zwischen den Menschen und den riesigen Heeren der Orks, die der Dunkle Herrscher Sauron aus dem Reich Mordor gesandt hat, um ganz Mittelerde zu unterjochen und in einen riesigen Friedhof zu verwandeln.

In Diemelstadt geht der Ork ab

„ConQuest of Mythodea“

Neben dem „ConQuest of Mythodea“, dass in der ersten Augustwoche in dem niedersächsischen Dorf Brokeloh stattfindet, und den „Epic Empires“ im saarländischen Bexbach, einer fantastischen Version der Olympischen Spiele, bei der bis zu 1500 Elben, Kelten und Pilger am ersten Augustwochenende gegeneinander antreten, ist das Drachenfest das größte Fantasy-Spektakel in Deutschland.

„Die Drachen rufen einmal im Jahr dazu auf, ihre Herrschaft auszufechten. Doch sie kämpfen nicht selber, sie lassen kämpfen“, sagt Andreas Megens. Er gehört zu den Spielleitern und zum Organisationsteam. Die Lager müssen Bündnisse schmieden, um zu gewinnen. „Der Sieger steht Samstagabend fest. Das letzte Banner auf dem Platz der großen Schlacht gewinnt“, sagt der 35-Jährige. Andere Spielleiter agieren als eine Art Schiedsrichter, damit sich die Kampfwütigen nicht allzu sehr aufmischen. Bei Verletzungen steht ein Notarzt bereit.

Kleidung, Waffen, Requisiten – alles selbst gemacht

Die Gewandungen, wie es heißt, nähen sich die Teilnehmer oft selbst, Waffen und andere Requisiten können auch in der Handelsstadt Aldradach gekauft werden. Es gibt keine Handys, keinen Strom, geschlafen wird in Zelten, Essen wird über dem Feuer zubereitet, Licht am Abend spenden Kerzen und Laternen - die Spieler leben fast eine Woche lang wie im Mittelalter.

Unter ihnen ist auch Pyriander, der Imperator des kupfernen Drachen. Dieser Drache steht für den Aspekt Herrschaft, andere zum Beispiel für Treue, Blutdurst, Weisheit, Magie, Freiheit oder Natur.

„Vom Studenten über die Sekretärin bis zum Oberstaatsanwalt ist alles dabei“

Pyriander heißt eigentlich Stephan Jacob, ist 34 Jahre alt, aus Fulda und Videospiel-Entwickler. Den Titel Imperator hat er sich selbst gegeben. „Das ist das spannendste Hobby, das man sich vorstellen kann. Man kann testen, was wäre wenn“, sagt der Hüne. „Das hat ganz starke soziale Aspekte.“ Er ist zum zwölften Mal dabei. „500 Leute aus meiner Facebook-Liste sind hier.“ Spielleiter Megens sagt: „Vom Studenten über die Sekretärin bis zum Oberstaatsanwalt ist hier alles dabei.“

Alexander Jaensch, genannt Betty, ist Spielleiter des Lagers des schwarzen Drachen. Der 30 Jahre alte Sachbearbeiter aus Düsseldorf hat jahrelang selbst mitgespielt. „Irgendwann hatte ich keine Lust mehr zu spielen, sondern ich wollte lieber organisieren.“ Er sagt: „Wenn ich das Gelände betrete, vergesse ich die Welt draußen komplett. Die Probleme draußen interessieren mich nicht.“ Larp habe viele Facetten. „Es ist viel mehr als umziehen und verprügeln.“

Improvisationstheater für Fantasy-Fans

Beim Live-Rollenspiel schlüpfen Normalos in in eine Rolle und mimen in einer Art Improvisationstheater eine Spielfigur, die in Gewändern, Gestik und Mimik selbst darstellen. Das Spiel findet in der Regel ohne Zuschauer statt.

In Deutschland gibt es 500 bis 600 Liverollenspiel-Veranstaltungen pro Jahr. Die ein- oder mehrtägigen Veranstaltungen werden Con, LARP oder Live genannt und werden Internet über spezielle Communitys und Online-Veranstaltungskalender beworben und koordiniert.