Die von Robert Wilson inszenierte und von Herbert Grönemeyer vertonte Version von Goethes „Faust I und II“ im Berliner Ensemble bedient alle Erwartungen – sogar die, überrascht zu werden. Der Abend stellt sich als ganz und gar unstrapaziöses Bilderbuch des Tiefsinns heraus.

Stuttgart - Da feiert das wichtigste Stück der deutschen Dramatik Premiere am Berliner Ensemble, und wer wagt es, durch Abwesenheit zu glänzen? Der Regierende Bürgermeister und Kultursenator Michael Müller sowie sein Staatssekretär Tim Renner. Wahrscheinlich amüsierten sich die beiden sozialdemokratischen Spaßnasen, nachdem sie vom BE-Intendanten Claus Peymann angepflaumt worden waren, lieber in irgendeiner Oper. Dabei war es diesmal auch am Schiffbauerdamm lustig, wie eine kleine Analyse der Zuschauerreaktionen ergibt.

 

Hier ein Ausschnitt aus dem Kritiker-Protokoll: „Auftritt ein als Pudel verkleideter Schauspieler (Lachen). Das Licht geht aus, es pufft, das Licht geht wieder an, der Pudel ist jetzt als Teufel verkleidet (Lachen). Der Teufel sagt: Wau (Lachen). Der Teufel fragt: Wozu der Lärm? (Lachen).“ Es wurde, richtig geraten, Goethes „Faust“ gegeben, der Tragödie erster und zweiter Teil. In der Regie von Robert Wilson, dem weltberühmtesten Theaterregisseur aus ganz Texas. Dazu gab es Musik von Herbert Grönemeyer, dem weltberühmtesten Komponisten aus ganz Bochum. Was, liebe Opernfreunde und Kulturmanager, bleibt da zu wünschen übrig? Lässt Peymann da nicht jene Eventbude zu, als deren Verfechter er euch gegeißelt hat? Jedenfalls kommen die Liebhaber der drittmittelfinanzierten, weltstarbeteiligten, sparten-, medien- und genreübergreifenden Kultur voll auf ihre Kosten bei diesem ganz und gar unstrapaziösen Bilderbuch des Tiefsinns zum Mitschunkeln. Und dabei mit viereinviertel Stunden fast so lang wie ein durchschnittlicher Castorf-Abend an der Volksbühne.

Bereit machen für Überrumpelungen!

Schon vor dem ersten Klingeln rummelt es in der Bude: Flackerlicht und Partymucke. Die Schauspieler wurden offenbar zu Disziplinlosigkeit angewiesen. Sie fetzen in ihren Kostümen über die Bühne, nehmen unanständige Posen ein, ziehen freche Fratzen und skandieren zu mitreißenden Rhythmen Goethes „Vorspiel auf dem Theater“: „Ihr wisst, auf unsern deutschen Bühnen/ Probiert ein jeder, was er mag./ Prospekte nicht und nicht Maschinen/ Die schonet mir an diesem Tag.“ Mit einem zustimmenden „Wohlan!“ nahmen die aufgeschlossen schmunzelnden Premierengäste ihre Plätze ein und bekamen bei der bedächtig aufgesagten „Zueignung“ auch sogleich Gelegenheit, sich von dem Wirrwarr der Sinneseindrücke zu erholen und für spätere Überrumpelungen bereit zu machen.

Der Abwechslungsreichtum setzt sich an diesem Überraschungsei von Theaterabend fort: Laute Momente folgen auf leise, schnelle auf langsame, lustige auf ernste, spektakuläre auf unspektakuläre. Immer wenn es finster wird, kann man sicher sein, dass irgendwo ein Lichtlein herkommt. Und das ist − Tragödie hin oder her − auch im übertragenen Sinn gemeint.

Einem Kritiker ist so ein Richtigmachertheater natürlich ein Gräuel. Immer hektischer sucht er nach berichtenswerten Mängeln und versucht durch Abstrahlung von schlechter Laune Umsitzende runterzuziehen. Sind doch bloß illustrierte Zitate! Durchschaut denn keiner diese abgeschmackte Überbietungsdramaturgie?

Das ist hier ein Sprechtheater und kein Event-Schuppen! Was kann denn dieser hochmusikalische Christopher Nell, außer dass er mit schauspielerischer Intelligenz und großem Humor einen ziemlich genialen Mephisto hinlegt? Na gut, er beherrscht das triebgesteuerte Jodeln aus dem Effeff. Ja, sogar im Sopran. Und steppen kann er auch. Aber.

Die Pflicht des Chronisten

Aber was? Ein Kritiker, dem kein Aber einfällt, beginnt Sinnfragen zu stellen. Warum? Wozu Goethe? Wieso „Faust“? Weshalb beide Teile? Hier? Heute? Aber was sollen Sinnfragen angesichts eines Theaterabends, der gar nicht nachdenken, sondern bezaubern will? Und dann fragt er, und zwar mit echter innerer Beteiligung: werden Theaterkritiker denn überhaupt noch gebraucht?

Ja, lieber Leser, das werden sie. Wenigstens zur Sachstandübermittlung. Zu konstatieren bleibt nämlich noch einiges. Und kein Geringerer als der Direktor des Berliner Ensembles, Claus Peymann, fordert sie immer wieder von der Presse ein − die Chronistenpflicht.

Dieser sei mit folgender, leider unvollständigen Aufzählung nachgekommen.

1. Während die Wilson’sche Erzählweise sich in der ersten Hälfte des Abends durchaus als geeignet erweist, die allseits bekannte und überschaubare Handlung von „Faust I“ nachvollziehbar abzubilden, begnügt man sich für „Faust II“ mit einigen Motiven und Anspielungen.

2. Die Prospekte und Maschinen werden tatsächlich nicht geschont. Aber auch Licht-, Ton- und Bewegtbild-Effekte sind zu vermelden.

3. Der wenige Goethe-Text, der in der Fassung von Jutta Ferbers erhalten ist, wird zu großen Teilen wiederholt, was das Verständnis erleichtert.

4. Die Songs basieren zwar auf Goethe-Texten, klingen jedoch wie von Herbert Grönemeyer auf Reimschema und Rhythmus gebracht.

5. Das achtköpfige Orchester spielt live.

6. Der Komponist hat bei der Premiere selbst zum Mikrofon gegriffen und zur Freude des Publikums das Trinklied aus „Faust II“ gesungen und damit das Motto des Abends schön zusammengefasst: „Stoßet an, ’s ist nichts dabei/ Trinke Tinke-Tinke“, wobei manche im Publikum „Winke Winke“ verstanden.

7. Wilson beließ es beim Verbeugen.

8. Termine entnehmen Sie bitte der unten angehängten Note. 8a. Bitte beeilen beim Karten bestellen.

Letztens: Das Publikum spendete dreizehn Minuten lang frenetischen Beifall.