Auf der Ferieninsel Usedom wählte bei den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern fast jeder Dritte rechts. Herrscht hier Fremdenfeindlichkeit – oder war die Wahl eine Protestwahl? Eine Spurensuche.

Peenemünde/Wolgast - Der Ort, auf den nun alle Welt schaut, hat eigentlich nicht viel zu bieten. Peenemünde, das ist kaum mehr als ein kleiner Bahnhof, eine alte Feuerwache, ein Museum, ein Hafen mit ein, zwei Ausflugsschiffen und Restaurants. Keine holzvertäfelten Villen wie in den Kaiserbädern am anderen Ende der Insel und auch kein Sandstrand. Nicht einmal ein richtiges Ortszentrum gibt es hier, jedenfalls keines, das erkennbar wäre. Um die Mittagszeit wirkt der Ort wie ausgestorben. In einem Schrebergarten weht eine ausgeblichene Deutschlandfahne, etwas weiter die Straße hinunter wird ein grau-brauner Plattenbau saniert. „Asylchaos stoppen“ steht auf einem AfD-Wahlplakat vor dem Haus.

 

Nur im Lebensmittelgeschäft, dem einzigen im Dorf und eigentlich auch eher ein Kiosk, ist um diese Zeit etwas los. Eine Frau und zwei Männer um die 50 stehen in dem kleinen Laden und trinken Kaffee aus Pappbechern. Man redet über die Wahlergebnisse, natürlich, schließlich haben die Peenemünde quasi über Nacht zum rechtesten Dorf der Republik gemacht. Jeder zweite Wähler hier hat bei den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern vergangene Woche AfD oder NPD gewählt - 46,8 Prozent blau, 5,6 Prozent braun. Die höchsten Werte im Land.

Hier, zwischen Angelausrüstung, Batterien, Wurst und Backwaren, wird nun also diskutiert, wie es weitergeht. Ob die Touristen jetzt wegbleiben, „aus Angst vor Nazis“. Einer der Männer zeigt auf seinem Handy eine Mail von Leuten, die jetzt nicht mehr kommen wollen, wegen der Wahlergebnisse.

Man hat sie hier wohl vergessen, glauben viele

Ist man überrascht von dem Ergebnis, hier in Peenemünde? Kopfschütteln. „Es war klar, dass es irgendwann mal knallen wird, und jetzt hat es halt geknallt“, sagt einer. Von Steuergeld, das jahrelang zum Fenster hinausgeschmissen wurde, erzählen sie, davon, dass man „denen da“ in Schwerin mal einen Denkzettel verpassen musste, weil man sie hier, in dieser gottverlassenen Ecke von Usedom, wohl vergessen hat. Weil es seit der Wende bergab gehe, alles hier „wegrationalisiert“ werde, Kindergärten, Schulen, Buslinien, Krankenhäuser, aber alle trotzdem immer nur die schönen Strände sehen und den Tourismus, von dem sie hier höchstens im Sommer leben können, wenn überhaupt.

Und das von der AfD im Wahlkampf so viel beschworene „Asylchaos“? Naja, sagt die Frau jetzt, auch sie zahle schließlich für die Flüchtlinge mit. Und es könne auch nicht angehen, dass ein minderjähriger Flüchtling mehr Geld bekomme als ein Rentner hier. Schwingt die Fremdenfeindlichkeit also eher zwischen den Zeilen mit? Einer der Männer unterbricht. „Es geht nicht um Fremdenfeindlichkeit, es geht ums Volk“, sagt er, „darum, dass in den letzten Jahren völlig am Volk vorbeiregiert wurde.“

Dass die 46,8 Prozent, die die AfD in Peenemünde bekommen hat, vor allem Protest waren, sagt auch Rainer Barthelmes, der ehrenamtliche Bürgermeister der Gemeinde. „Ich würde fast mein Hemd dafür verwetten, dass die meisten hier das Parteiprogramm der AfD gar nicht kennen – und es ihnen auch egal ist.“ Obwohl auch bei den vergangenen Landtagswahlen rechte Parteien hier hoch abschnitten, 2011 erzielte die rechtsextreme NPD hier 18,4 Prozent. Peenemünde sei trotzdem kein rechtsradikaler Ort, sagt Barthelmes, auch wenn es vielleicht, wie überall, vereinzelt extreme Ansichten gebe. Von ungefähr 290 Einwohnern hätten bei diesen Wahlen ja eigentlich auch nur etwas über 60 rechts gewählt, geht man von 126 Wahlbeteiligten aus.

Die geschlossene Kinderstation sorgt für Frust

Barthelmes, 63, groß, Dreitagebart, sitzt auf einer der neu aufgestellten Bänke am blitzblanken Hafengelände. Er trägt Sonnenbrille und ein blaues Hemd, es sei ja nun eh schon egal – ein braunes Hemd gehe schon gleich gar nicht. Ein paar Touristen fahren auf ihren Rädern am Ufer entlang, über das beinahe unbewegte Wasser des Peenestroms hinweg ist das Festland zu sehen.

Barthelmes ist parteilos, und wenn er erklärt, warum ausgerechnet sein Dorf der AfD so viele Stimmen gegeben hat, klingt das so, als sei er selbst enttäuscht von „der Politik“. Die Menschen hier seien frustriert, sagt er, und er findet: zurecht. Da war zum Beispiel die Kreisgebietsreform, durch die das Amtsgericht im nahen Wolgast geschlossen wurde. Die Geburten- und Kinderstation im Wolgaster Krankenhaus, ausgerechnet, die vor kurzem einfach dicht gemacht wurden – trotz heftiger Proteste. „Hier gibt es doch sowieso schon nichts“, sagt Barthelmes, und meint vor allen Dingen keine Industrie und dadurch wenig Arbeit. Und dann der Verkehr: Im Sommer sei das hier auf der Insel ein Riesenproblem, aber die Wolgaster Ortsumgehung werde einfach nicht gebaut – obwohl sie seit der Wende auf der Tagesordnung stehe. „Die Wahl war ein Hilferuf.“

Peenemünde ist kein historisch gewachsener Ort, es gibt hier keine Alteingesessenen, dafür aber viele ältere Menschen. Einen „zusammengeworfenen Scherbenhaufen“ nennt Barthelmes die Gemeinde. Während der Nazizeit war hier die sogenannte Heeresversuchsanstalt – heute das historisch-technische Museum –, wo Hitler V2-Raketen entwickeln ließ. Antisemitismus hatte hier, auf der Insel, schon zu Zeiten der Weimarer Republik als sogenannter „Bäder-Antisemitismus“ eine gewisse Tradition. Später, in der DDR, war Peenemünde Sperrgebiet des Militärs. Nach der Wende gingen viele der damals 900 Einwohner weg, vor allem die jungen, gut ausgebildeten. Immerhin, sagt Barthelmes, in den letzten Jahren habe man einiges angestoßen. Jetzt gibt es ein regionales Entwicklungsprojekt, baufällige Baracken im Ort wurden abgerissen, der Hafen und die Promenade saniert. Die Landesregierung hat in den letzten Jahren viel Geld investiert. „Das ist gut, aber es kommt nicht bei den Menschen an“, sagt der Bürgermeister. Und jetzt? „Jetzt ist die Politik gefragt“, sagt Barthelmes. Das gleiche haben sie im Dorfladen auch gesagt.

Die wirtschaftliche Situation auf der Insel ist nicht so schlecht, der Tourismus wächst

Die AfD jedenfalls hat den Frust der Menschen hier im tiefen Nordosten aufgegriffen, zumindest nennt der Direktkandidat des Wahlkreises genau die Probleme, die auch die Leute ansprechen: Krankenhaus, Amtsgericht, Verkehr. „Die Region wird besonders schlecht behandelt“, sagt Weber, und spricht von „bürgerferner Politik“. Weber, der als Jurist an der Uni Greifswald mit Kleidung der bei Neonazis beliebten Marke Thor Steinar auffiel und auch aus seinen Kontakten zu NPD-Leuten keinen Hehl macht, wird als Direktkandidat für die AfD in den Schweriner Landtag ziehen.

Dabei ist die Situation auf der Insel auf den ersten Blick gar nicht so schlecht: Die Bevölkerungszahl ist stabil, der Tourismus wächst, in diesem Jahr um etwa acht Prozent. Fast jeder zweite hier lebt direkt oder indirekt davon. „Man darf aber nicht vergessen, dass die Menschen sehr unterschiedlich davon profitieren“, sagt Beate-Carola Johannsen, Chefin des Tourismusverbandes der Insel. Die Löhne hier seien niedrig, das hört man immer wieder, und im Winter bricht nicht nur das Geschäft weg, sondern für viele Saisonarbeiter eben auch der Verdienst.

Nun also auch noch die Sorge, dass die Wahlergebnisse schlecht sind für das Image der Insel – und für den Tourismus. Wie Barthelmes ist Johannsen überzeugt, dass man hier auf Usedom weltoffen und tolerant sei. War es also tatsächlich nur der Frust über bürgerferne Politik, die der AfD hier, im äußersten Nordosten der Republik, die hohen Zustimmungswerte bescherte?

Die Flüchtlinge sind auch in Wolgast keine Erklärung – dafür gebe es hier zu wenige

20 Kilometer entfernt, auf der anderen Seite des Peenestroms, sitzt Stefan Weigler, 37, an seinem Schreibtisch im Wolgaster Amt und zuckt mit den Schultern. Eine andere Erklärung hat auch er nicht , obwohl er seit einer Woche über nicht viel anderes nachdenkt. „Es gibt für jedes Problem eine einfache Lösung, und das ist immer die falsche“, stand ausgerechnet am Wahlsonntag in seinem Kalender. Einfache Lösungen bieten, das sei die Strategie der AfD, sagt der Bürgermeister. Einfach mache es sich jetzt aber auch die Koalition, indem sie die Wahlschlappe mit der Flüchtlingspolitik erkläre. Aber so einfach sei es nicht – schließlich gebe es im ganzen Wahlkreis Vorpommern-Greifswald III nur 285 Asylsuchende.

Nein, sagt Weigler – die Leute hier hätten einfach das Gefühl, es seien immer sie, die die Strukturreformen abbekämen, während in umliegenden Regionen wie Rügen ständig was passiere. „20.000 Leute haben für den Erhalt der Kinderstation in Wolgast unterschrieben. In Schwerin gab es von CDU und SPD keine einzige Stimme dafür.“ 20.000, rechnet Weigler vor, das sei ungefähr die Zahl, die später, bei der Wahl, ihr Kreuz rechts gesetzt habe. Vielleicht sei es ja ein Weckruf für die Politik.

Weigler wird wohl bald nach Schwerin fahren und den Ministern dort die Lage erklären, für seine Projekte im Ort werben, dafür, dass er endlich Unternehmen auf seine Industriebranche holen kann, die Ortsumgehung gebaut wird, es keine Reformen mehr auf Kosten seiner Infrastruktur gibt. Dass ihm das Wahlergebnis dabei zugutekommt, vor allem dann, wenn man es mit dem Frust über die lokale Untätigkeit der etablierten Parteien erklärt, daraus macht er kein Geheimnis.

Vielleicht gibt es doch etwas Ausgrenzendes, zumindest auf den zweiten Blick?

Gerade ist die große Zugbrücke über den Peenestrom geöffnet, der das Festland von Usedom trennt, ein paar Segelboote schieben sich durch den Kanal. Vor der Brücke stauen sich die Autos bis hinunter zum kleinen, von Fachwerkhäusern umgebenen Stadthafen. Einfach so hält kaum jemand in Wolgast an, für die meisten Touristen ist die 12.000-Einwohner-Stadt es nur eine Station auf dem Weg nach Usedom.

Am Hafen, gegenüber der großen, blauen Peene-Werft, einst dem größten Arbeitgeber der Stadt, sitzen ein paar Leute bei Bier, Schnaps und Karten in einer kleinen Kneipe. „Letzte deutsche Tränke vor Usedom“, steht außen. Vielleicht gibt es hier doch einen gewissen Nationalismus, etwas Ausgrenzendes, zumindest auf den zweiten Blick? Die Frau hinter der Bar winkt ab, nationalistisch sei hier keiner. „Es geht doch um was ganz anderes“, sagt sie, und erzählt von der Kinderstation und dem Amtsgericht. „Die Wahl war unser Protest.“