Bei Nicolas Wackerbarths Fernsehfilmdebüt „Casting“ für den SWR dürfen die Darsteller ihrem Spieltrieb freien Lauf lassen

Stuttgart - Spieltrieb“ lautete vor fünf Jahren der treffende Arbeitstitel von Nicolas Wackerbarths Regiedebüt „Unten Mitte Kinn“: Das im Auftrag des Kleinen Fernsehspiels vom ZDF entstandene Erstlingswerk war eine reine Improvisationsarbeit. Diesem Spieltrieb frönt der Regisseur nach dem Kinofilm „Halbschatten“ (2013) nun auch in seinem ersten Fernsehfilm; die Dreharbeiten sind vor kurzem zu Ende gegangen. Die Geschichte von „Casting“ (Arbeitstitel) ist in gewisser Weise eine Fortführung von „Unten Mitte Kinn“: Ging es damals um Schauspielschüler, ist die zentrale Figur diesmal ein gestandener, aber erfolgloser Schauspieler (Andreas Lust) um die Vierzig, der für ein Casting als Anspielpartner gebucht wird. Bis kurz vor Drehbeginn wird eine Hauptdarstellerin für ein Filmprojekt gesucht, aber die Regisseurin (Judith Engel) findet einfach nicht die richtige.

 

Die prominenten Kandidatinnen, die für die Rolle vorsprechen, werden von Ursina Lardi, Marie-Lou Sellem, Corinna Kirchhoff, Victoria Trauttmansdorff und Andrea Sawatzki verkörpert. Zum weiteren Ensemble gehören unter anderem Nicole Marischka und Stephan Grossmann. Sämtliche Mitwirkende wurden von Wackerbarth nur in groben Zügen über die Handlung informiert. Das Produktionsprinzip erinnert an die Arbeitsweise von Jan Georg Schütte, der nach der Speed-Dating-Komödie „Altersglühen“ zuletzt auf gleiche Art an nur einem Wochenende „Wellness für Paare“ gedreht hat. Wackerbarth hatte für „Casting“ 21 Drehtage und konnte die verschiedenen Konstellationen daher in langen Takes szenisch gestalten und verdichten. Außerdem, erläutert er, gebe es „wohl einen Instinkt, Konflikten auszuweichen. Also mussten wir die Schauspieler zum Teil ermutigen, dagegen anzuspielen. Mitunter haben sich Situationen auch in die falsche Richtung entwickelt, dann war ein neuer Anlauf nötig. Die Szenen sind aber immer wieder neu erfunden worden. Man sieht das ja in den Augen der Schauspieler, wenn sie selbst nicht wissen, was im nächsten Moment passiert.“

Eine falsche DVD machte den Redakteur neugierig

Letztlich ist es einem Zufall zu verdanken, dass Wackerbarth nun schon zum zweiten Mal improvisieren durfte. Vor einigen Jahren hat er einen Workshop für Schauspielschüler gegeben. Die jungen Männer und Frauen verarbeiteten ihre Schulerfahrungen in improvisierten Szenen. Kurz darauf sollte Wackerbarth einen seiner Kurzfilme an Burkhard Althoff vom Kleinen Fernsehspiel schicken. Weil er beim Brennen der DVD die falsche Datei erwischt hatte, bekam Althoff die Aufnahmen vom Workshop. Prompt schlug der Redakteur vor, auf exakt diese Weise einen Film zu drehen; nach nur drei Monaten Vorbereitungszeit entstand „Unten Mitte Kinn“. Wackerbarth fand die Arbeitsweise so erfüllend, dass er unbedingt ein weiteres Projekt dieser Art realisieren wollte.

Dem SWR kam er mit seinem Konzept gerade recht, und das nicht nur, weil zum Team der Fernsehfilmredaktion seit einem halben Jahr auch Katharina Dufner gehört. Die frühere Redakteurin des Kleinen Fernsehspiels kannte Wackerbarths Debütfilm und ist seit ihrer Zusammenarbeit mit Axel Ranisch bei dessen Filmen „Ich fühl mich Disco“ und „Alki Alki“ eine große Improvisationsanhängerin: „Filmdialogen hört man oft an, dass sie beim Schreiben entstanden sind. Improvisierte Dialoge klingen viele natürlicher, die gesamte Spielsituation ist einfach authentischer.“ Dufner wird auch Ranischs ebenfalls improvisierten „Tatort“ aus Ludwigshafen betreuen. Beim SWR hatte man sich allerdings schon vor ihrem Redaktionswechsel mit dem Thema Improvisation beschäftigt; Wackerbarth war, wenn man so will, der richtige Mann zur richtigen Zeit.

Zuschauer mögen Film-im-Film-Handlungen oft nicht

Auf dem Baden-Badener Studiogelände fand der Regisseur zudem die perfekten Kulissen, denn „Casting“ spielt in einem Filmstudio. Außerdem habe ihm der Sender alle künstlerischen Freiheiten gelassen: „Jede Produktionsweise schreibt sich in einen Film ein. Dass eine Redaktion nicht darauf besteht, ein Drehbuch wie eine Gebrauchsanweisung umzusetzen, sondern prozesshaftes Arbeit während des Drehs ermöglicht und auch noch fördert, ist wirklich großartig.“

Natürlich hat der Regisseur gemeinsam mit dem Koautor Hannes Held einen groben Rahmen abgesteckt, aber trotzdem sei jeder Drehtag unvorhersehbar und somit auch ein Prüfstand für ihn als Autor und Regisseur gewesen: „Den Kontrollverlust benutzen erfahrene Schauspieler ja sogleich für ihr Spiel. Sie haben sich lustvoll und kämpferisch der Herausforderung gestellt, nicht zu wissen, was der Mitspieler als nächstes vorhatte. So können komplexe Spielvorgänge mit scharfen Dialogwitz entstehen.“ Dass die Zuschauer von Film-im-Film-Handlungen oft weniger begeistert sind als die Verantwortlichen, ist für Dufner, die den Film redaktionell gemeinsam mit Jan Berning betreut, kein Argument: „Gerade ein öffentlich-rechtlicher Sender darf Stoffe nicht nur danach aussuchen, ob sie Quote machen. Man muss auch mal was Neues wagen.“