Die Sehgewohnheiten junger und alter TV-Zuschauer entwickeln sich immer weiter auseinander. ARD und ZDF reagieren darauf jedoch nur schleppend.

Stuttgart - Anfang September beginnt die neue TV-Saison, aber die Ankündigungen der Sender versprechen nichts Neues. Das deutsche Fernsehen schmort schon geraume Zeit im eigenen Saft. Veränderungen gibt es allenfalls im Detail, wie die Jahres-Hitlisten-Sender belegen, denn die Übersichten weisen konstante Muster auf: Abgesehen von Fußball, Formel 1 und Boxen hat jeder Sender seine spezifischen Stärken, und das sind immer wieder die gleichen. „Es sind die modernen Klassiker, die in einem sich immer stärker diversifizierenden TV-Markt zuverlässige Quoten bringen“, erläutert der Marburger Medienwissenschaftler Gerd Hallenberger.

 

In der ARD sind das etwa Dienstagsserien wie „In aller Freundschaft“ (seit 1998) und „Um Himmels Willen“ (seit 2002), im ZDF „Wetten, dass . . ?“ (seit 1981), bei RTL „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!“ (2004), bei Pro Sieben die Formate mit Stefan Raab (unter anderem „Wok-WM“, seit 2003) oder „Germany’s Next Topmodel“ mit Heidi Klum (seit 2006). Unangefochten erfolgreichste Eigenproduktion im deutschen Fernsehen ist seit Jahrzehnten der „Tatort“ im Ersten. Den gibt es seit 1970.

Die große Mehrheit der Zuschauer will aber offenbar auch gar nicht, dass sich das Programm großartig ändert. Fernsehen, sagt Hallenberger, Professor an der Kölner Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft, sei „ein typisches Gewohnheitsmedium.“

Die Sender orientieren an den älteren Zuschauern

Deshalb habe es in den letzten vierzig Jahren nur eine echte Zeitenwende gegeben: die Einführung des Privatfernsehens. Grundsätzlich geändert habe sich trotzdem nichts: „Einige TV-Genres sind anders interpretiert wurden, aber auch nach 1984 bestand das Programm aus Nachrichten, Familienserien und Krimis, und gespielt und geraten wurde natürlich auch.“ Weil sich die restliche Medienlandschaft in den letzen 25 Jahren stark verändert habe, wirke das Fernsehen „objektiv betrachtet um so hartnäckiger unbeweglich.“ Älteren Zuschauer falle das vermutlich gar nicht auf, weil sie die Stagnierung „als zuverlässige Konstante begrüßen, aber jüngere erwarten von einem Medium, dass es sich mit ihnen weiterentwickelt.“

Das Fernsehen orientiert sich jedoch in erster Linie an den Sehgewohnheiten jener Menschen, die mit dem Medium aufgewachsen sind, und die haben früh gelernt, dass verpasste Sendungen für immer verloren sind. Diese Sehgewohnheit wird sich bei Menschen über fünfzig wohl auch nicht mehr ändern, obwohl man sich dank der Mediatheken und der zumindest bei „Smart TVs“ kinderleicht zu bedienenden Programmierfunktionen nicht mehr an Sendeterminen orientieren muss.

Manche Sendungen wolle alle live sehen

Die „Digital Natives“ jedoch, die Mitglieder der Internetgeneration, halten sich nicht mehr ans Sendeschema; sie stellen sich ihr Programm selbst zusammen. Selbst die digitalen Eingeborenen aber werden sich laut Hallenberger auch in Zukunft bestimmte programmliche Höhepunkte nicht entgehen lassen: „Sportereignisse wollen die meisten Menschen grundsätzlich live erleben, und auch Castingshows muss man zur vorgegebenen Sendezeit anschauen, wenn man durch Anrufe Einfluss auf das Abschneiden der Kandidaten nehmen will.“

Gleiches gelte für Sendungen, die im persönlichen Umfeld, also in der Schule, am Arbeitsplatz oder während der Ausstrahlung in den sozialen Netzwerken Gesprächsthema seien: „Subjektiv betrachtet wäre es völlig egal, ob man den Sonntags-‚Tatort‘ am Montagabend sieht, aber am Dienstag ist er in der Regel kein Thema mehr.“ Um die Zuschauer über fünfzig müssten sich die Sender dagegen nicht ausdrücklich kümmern, denn sie blieben dem Fernsehen ohnehin erhalten: „Wer mit fünfzig regelmäßig ARD und ZDF einschaltet, wird ihnen erfahrungsgemäß nicht mit siebzig untreu.“

Ältere Zuschauer profitieren auch nur in Ausnahmefällen von einer Entwicklung, die Hallenberger als „Megatrend der letzten dreißig Jahre“ bezeichnet. Bis circa 1985 gab es kaum Produktionen, die sich an spezielle Zielgruppen richteten – eine Ausnahme bildeten Angebote für Kinder und Jugendliche. Die meisten Sendungen sollten große Zuschauerzahlen erreichen und wurden daher für ein laut Hallenberger „als einheitlich gedachtes Publikum“ konzipiert. Jahrzehntelang verfügte ein durchschnittlicher Haushalt nur über einen zentralen Apparat, der in der Regel im Wohnzimmer stand, ausgemusterte Zweitgeräte wanderten ins Kinderzimmer. Das Fernsehprogramm musste also die ganze Familie ansprechen.

Der spezielle Humor von Joko & Klaas

Heute besitzt jeder Haushalt mehrere Geräte, und es gibt Sender für kleinste Zielgruppen, die aufgrund der Segmentierung des Marktes trotzdem attraktiv sind. Da es von Europa- und Weltmeisterschaften im Fußball abgesehen einstige Megaerfolge mit mehr als zwanzig Millionen Zuschauern nicht mehr gibt, können auch Angebote für kleine Publika Erfolge sein. Eine Show wie „Circus Halligalli“ (Pro Sieben) mit Joachim Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf zum Beispiel wäre vor dreißig Jahren nicht möglich gewesen. Kein Sender hätte sich getraut, ein derart zugespitztes Minderheitenangebot auszustrahlen: Die meisten Menschen über dreißig können mit dem sehr speziellen Humor von Joko & Klaas nichts anfangen.

Die gegenseitigen Streiche des populären Duos werden bei YouTube millionenfach abgerufen. Das Internet hat dem Fernsehen bei den Jüngeren ohnehin längst den Rang abgelaufen. Die Privatsender haben auf diese Entwicklung reagiert und Strategien entwickelt, wie man TV-Inhalte im Netz zu Geld machen kann. Während solche Konzepte für die kommerziellen Senderfamilien überlebenswichtig sind, können sich ARD und ZDF darauf verlassen, dass ihnen die älteren Zuschauer trotz der sinkenden Begeisterung für Klassiker wie „Wetten, dass . . ?“ treu bleiben werden.

Für den beschlossenen Jugendkanal gelten allerdings naturgemäß ganz andere Voraussetzungen. Die Planer dieses Projekts, bei dem die beiden öffentlich-rechtlichen Systeme ähnlich wie beim Kinderkanal gemeinsame Sache machen, werden es sich nicht leisten können, die jugendlichen Nutzungsgewohnheiten zu ignorieren. Pessimisten gehen ohnehin davon aus, dass es den Sendern nicht gelingen wird, die junge Zielgruppe zu erreichen. Einem hochrangigen ZDF-Mitarbeiter schwant nichts Gutes, wenn er die derzeitige Situation hochrechnet: „Irgendwann werden Menschen, die heute um die dreißig sind, nicht mehr einsehen, warum sie Zwangsgebühren für ein Programm zahlen sollen, das sie außer bei wichtigen Fußballspielen überhaupt nicht wahrnehmen.“