Die ARD-Produktion „Zappelphilipp“ erzählt von einem Kind, das es seiner Umgebung schwer macht. Ein Film, der Fragen aufwirft.

Stuttgart - Am Anfang ist eine Münchner Straßenkreuzung zu sehen, mehrere übereinander laufende Spuren, auf denen sich Fahrzeuge durcheinander bewegen, musikalisch unterlegt von einem sphärischen Technosound. Wenn auch nur einer in diesem anfälligen Gefüge nicht hundertprozentig funktioniert, bricht das System zusammen. Es ist wohl dieses zeitgenössische Grundgefühl, das die Regisseurin Connie Walther in ihrem Film „Zappelphilipp“(ARD, Mittwoch, 20.15 Uhr) symbolisieren wollte, bevor sie ihre Geschichte erzählt. Und die ist überaus aktuell.

 

Sie handelt von Fabian, der neu in die Klasse der jungen Lehrerin Hannah Winter kommt, mit dem Hinweis der Rektorin, dass er „hier bei null anfange“. Was natürlich nach großem Ärger an der vorhergehenden Schule riecht. Winter, gespielt von der großartigen Bibiana Beglau, scheint genau die Richtige zu sein, um die Probleme des Buben aufzufangen. Ihr Umgang mit den Schülern ist konzentriert und spielerisch, sie versucht sie als Individuen zu behandeln, und nicht als graue Masse. Bei Fabian aber stößt sie an ihre Grenzen. Der Neunjährige schmiert Wände voll, schlägt Mitschüler, sobald es zu Konflikten kommt und läuft einfach weg.

Man drängt auf psychologische Behandlung

Zwar findet die engagierte Lehrerin bald einen persönlichen Zugang zu dem Kind, opfert ihm Freistunden und hilft ihm, nach seinen Stärken zu suchen. Als sich jedoch die Zwischenfälle mit Fabian häufen, drängen die Kollegen, Mitschüler und deren Eltern darauf, ihn in ärztliche oder psychologische Behandlung zu geben, „da kann man doch helfen“. Aber kann und soll man schon Heranwachsende mit Medikamenten ruhigstellen? Er habe „eine Fehlschaltung“ in seinem Kopf, das habe ihm sein Stiefvater erklärt, aber er sei kein „Psycho“, so erklärt Fabian, ergreifend gespielt von dem jungen Anton Wempner, Hannah Winter seine Befindlichkeit, die man längst als Hyperaktivität, oder kurz als ADHS unter den Zeitkrankheiten kategorisiert hat. Und, sagt er: „Ich gehe immer allen auf die Nerven, aber ich will gar nicht nerven“.

Dieses Kind, das andere, am meisten aber sich selbst belastet, als empfindsamen, nach Hilfe schreienden Menschen zu zeigen, ohne es zu dabei zu idealisieren, ist die große Leistung von „Zappelphilipp“. Die im Auftrag des Bayerischen Rundfunks entstandene Produktion greift ein Thema auf, das schon lange in der Luft liegt, nämlich „Wie geht eine Gesellschaft mit ihren Kindern, insbesondere mit ihren schwierigen Kindern um? Welchen Zwängen unterliegen wir, welchem Anpassungsdruck setzen wir unsere Kinder aus und welche Lösungen entwickeln wir?“ So bringt die Drehbuchautorin Silke Zertz auf den Punkt, was viele Eltern, sowie erzieherisch Tätige beschäftigt.

Leichter und schwieriger zugleich

Denn Kinder großzuziehen scheint in unserer hektischen, krisengeplagten, durchorganisierten Zeit zwar einerseits leichter, andererseits aber viel schwieriger zu sein als früher. Statistisch gesehen, gibt es derzeit im Durchschnitt in jeder Schulklasse neben vielen kleineren mindestens einen schwerwiegenden Problemfall wie Fabian. Der wiederum ist seinem leiblichen Vater seit Jahren nicht begegnet, seine Mutter hat gerade einen neuen Mann geheiratet, mit ihm in der Stadt ein Geschäft eröffnet und erwartet ein Baby. Ist es ein Wunder, dass der Bursche der in früheren Epochen der Menschheit, so erklärt es der Musiklehrer, bei dem er sich am Schlagzeug austoben darf, wahrscheinlich wegen seiner überstark ausgeprägten simultanen Wahrnehmung ein hervorragender Jäger und damit ein angesehenes Mitglied der Gemeinschaft gewesen wäre, in der Etagenwohnung vor seinem Computer geradezu implodiert? Sind nicht die Erwachsenen, die ihm ein so wenig kindgemäßes Leben im Dauerstress abverlangen, die eigentlich Gestörten? Überschreiten Lehrer, die versuchen, sich all dem, vielleicht auch aus persönlichen Beschädigungen heraus, entgegenzustemmen, nicht auch die Grenzen des Familiären? Und ist es am Ende doch für alle Seiten das Beste, durch Psychopharmaka, denn nichts anderes ist ja die Kindermodedroge Ritalin, allen Beteiligten mehr Ruhe zu verschaffen?

Solche Fragen stellt der Film, ohne seine Protagonisten zu verurteilen, und ohne Antworten parat zu haben. Connie Walther, die „Zappelphilipp“ einen aussagekräftigen Rhythmus und eine prägnante Form gegeben hat, sagt dazu: „Eine schnelle Zeit erfordert schnelle Lösungen. Aber vielleicht ist der Zweifel, die Unsicherheit etwas, dem man nachfühlen sollte?“