Beim Festival „Change!“ haben rund zwei Dutzend Schriftsteller, Künstler, Kuratoren und Kulturvermittler im Stuttgarter Literaturhaus über die Kultur und die Protestkultur diskutiert.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Stuttgart - Kann ein Pinselstrich eine Revolution auslösen, ähnlich dem Flügelschlag eines Schmetterlings, der einen Wirbelsturm verursacht? Eine unglaubliche Vorstellung. Dennoch wird immer wieder die zentrale Rolle der Kunst in Zeiten des fundamentalen gesellschaftlichen Umbruchs hervorgehoben. Beschrieben wird die ungeheure Wirkungsmacht eines Romans, eines Pamphlets, von Fotos, Karikaturen, Graffitis oder auch eines Liedes. Das vergangene Vierteljahrhundert bietet die besten Möglichkeiten, Feldforschung zu betreiben. Seit dem Zerfall der Sowjetunion sind die Staaten in und um Europa nicht zur Ruhe gekommen. Zuletzt implodierten mit gewaltigem Getöse viele Staaten im arabischen Raum.

 

Die Europäer hatten angesichts des Arabischen Frühlings eher die Rolle der Claqueure und interessierten Zuschauer eingenommen, doch die Schockwellen haben nun auch unseren Kontinent erreicht, und die Folgen sind in den Städten zu spüren. Millionen Flüchtlinge haben sich auf den Weg gemacht, um bei uns ein besseres Leben zu finden, und diese Menschen werden auch hier den Grundstein für eine vielleicht grundlegende Veränderung der Gesellschaft legen.

Die Veranstaltung im Literaturhaus Stuttgart hatte also eine ungeahnte Aktualität. Unter dem Titel „Change!“ diskutierten rund zwei Dutzend Schriftsteller, Künstler, Kuratoren und Kulturvermittler am Wochenende in verschiedenen Runden über die Rolle der Kunst im Umbruch. Eine gewaltige Herausforderung, sind die gesellschaftlichen Veränderungen auf den ersten Blick politisch, kulturell und historisch doch kaum mit einander zu vergleichen. Doch es gebe auch offensichtliche Verbindungslinien, sagt Stefanie Stegmann, die Leiterin des Stuttgarter Literaturhauses. Die Kunst erobere sich durch Veränderungen immer neue Freiräume, um sich auszudrücken, beobachtet werde auch eine Re-Politisierung der Kultur.

Wenn sich Kunst und Protest treffen

Die Diskussionen machten deutlich, dass sich jeder Künstler diese neuen Freiräume auf seine eigene, sehr individuelle Weise erobert. Die Russin Viktoria Lomasko braucht das elektrisierende Chaos für ihre Arbeit, wie etwa die Proteste 2011/12 in Moskau mit all der aufgestauten Wut, der Bedrohung durch die Polizei und der Hoffnung auf Veränderung. Die Illustratorin will dabei sein, muss alles am eigenen Leib spüren. „In solchen Situationen spitzen sich die Gefühle extrem zu, man glaubt, man habe keine Haut mehr, man nimmt das Leben ungefiltert in sich auf“, beschreibt sie ihre Eindrücke.

Viktoria Lomasko gegenüber sitzt ihr mentaler Widerpart. Nikita Kadan fixiert die junge Russin ruhig, als sie ihre Arbeitsweise beschreibt, seine Mine wirkt fast teilnahmslos, und es ist kaum zu sagen, ob sie Staunen, Bewunderung oder Unverständnis ausdrückt.

Aber er scheint jedes ihrer Worte tief in sich aufzusaugen. Der junge Ukrainer hat bereits zwei Revolutionen erlebt, aber er ist keiner, der auf den Barrikaden stehen will. „Kunst und Protest existieren nebeneinander her, und manchmal treffen sie sich, weil die Zeit reif ist“, sagt der osteuropäische Grafiker Kadan.

Bemalte Porzellanteller als Beitrag zum Kampf

Was er damit meint, macht Kadan an einem Beispiel deutlich. Lange vor den Protesten 2013/14 auf dem Maidan hatte er eine verstörende Serie von Porzellantellern geschaffen, auf denen fast liebevoll gemalte Folterszenen abgebildet sind. Auf dem Höhepunkt der Proteste, als die Sicherheitskräfte mit allergrößter Brutalität gegen die Demonstranten vorgingen, eilte der junge Künstler zu den Aktivisten auf den Maidan und verteilte die Teller. Das war sein Beitrag am Kampf, seine Art, den Menschen Mut zu machen, sich gegen das System zu stemmen – es war in seinem Sinne der Zeitpunkt, an dem sich Kunst und Protest trafen. Gerade durch die Distanz, die der Künstler zum Geschehen habe, erklärt Kadan, sei es ihm möglich, vieles genauer zu beschreiben und Dinge sichtbar zu machen, die unter der Oberfläche liegen. Für ihn ist Kunst eine vorsichtige, tastende Annäherung an das Sein hinter dem Schein.

Zwischen diesen beiden Polen, dem fordernd-revolutionären Aktionismus und dem zurückhaltend-beobachtenden Abwarten bewegt sich die Kunst in Zeiten des Umbruchs. Es ist eine zentrale Botschaft der Veranstaltung im Literaturhaus, dass es wichtige Verbindungslinien gibt zwischen allen Protestbewegungen – egal ob sich die Menschen im Maghreb, in Ägypten, Syrien, Russland oder der Ukraine gegen die Unterdrückung stemmen.

Deutlich wurde allerdings auch, wie wichtig es ist, die gewonnenen Freiheiten in einer postrevolutionären Gesellschaft zu verteidigen und zu festigen. Gerade in dieser Zeit der Unsicherheit und Neuorientierung spielt die Kunst eine wichtige Rolle. Denn der offene Kampf für die Freiheit ist nur die erste Etappe auf einem sehr langen Weg in Richtung Demokratie.