Im Theaterhaus Stuttgart hat das Neue-Musik-Festival „Der Sommer in Stuttgart“ mit Konzerten des Ensembles Ascolta und der Neuen Vocalsolisten begonnen.

Stuttgart - Zad Moultaka, libanesischer Komponist des Jahrgangs 1967, konnte nicht schlafen. Er lag im Bett, irgendwo in einem Hotel, und es störte ihn ein Brummen – so lange, bis ihm jene Erkenntnis kam, die das Programmheft zum Neue-Musik-Festival „Der Sommer in Stuttgart“ verzeichnet: „Wenn ich in den Gebetsgesängen tibetischer Mönche einen Motor höre“, zitiert der Autor der Erläuterungen zum Stück „UM“ den schlaflosen Tonsetzer, „ - warum sollte es dann nicht auch möglich sein, in einem Motorengeräusch die tibetischen Gesänge zu hören?“

 

Wer dies gelesen hat, stolpert mit leisen Zweifeln hinein in die mit wirkungsvollen Lichtwechseln aufgemotzte Aufführung eines Werks, das sich aufmacht in die weite Welt der Mikrotonalität, also der kleinen Zwischentöne zwischen den Noten unseres temperierten Tonsystems, und der subtilen rhythmischen Verschiebungen. Die Neuen Vocalsolisten Stuttgart beginnen flüsternd (dem Werk zugrunde liegt das Tibetanische Totenbuch), in Wellen schwillt das Deklamieren auf und ab, aus Sprache wird Klang, aus Klang Musik, die als Klangband häufig auf- und abwärts gleitet und auch den Bereich der Ober- und Untertöne ertastet. Jeder Sänger scheint für sich zu singen, und doch schwingt man sich gleichsam aufeinander ein. Das von Erwan le Metayer geleitete Ensemble instrumental Ars Nova greift Gestus und Technik des vokal Vorgetragenen auf, verstärkt und dynamisiert ihn. Gleiches unternimmt die zunehmend exponierter agierende Elektronik, und wenn „UM“ nach etwa einer Stunde mit einem schier endlosen Descrescendo den Klang ins Nichts verschwinden lässt, ist im Kopf der lesenden Zuhörer aus dem Hotelmotor eine Meditation geworden. Deren musikalische Substanz reicht allerdings trotz raffiniert gemixter Zutaten und trotz wundervoll harmonischen Singens und Musizierens für eine Stunde Spielzeit dann doch nicht ganz aus.

Neue Musik zwischen Mönchsgesang und Dada

Der Rest des Festivalauftakts ist leichter, launiger, und er wird am Donnerstag im Theaterhaus gestaltet vom Ensemble Ascolta. Das begibt sich zunächst auf einen seiner Lieblings-Spielplätze: Zu hören ist Filmmusik, originale und nachkomponierte; für Erstere sorgt Erik Satie, für Letztere Martin Smolka. Zu sehen ist René Clairs Dada-Stummfilm „Entr’acte“ von 1924, eine herrlich verrückte Montage verfremdeter realer und absurder Bilder; am Ende macht sich ein Leichenwagen selbstständig, die Beerdigungsgesellschaft verfolgt ihn – und wird, nachdem der Wagen aus der Kurve geflogen ist, von einem dem Sarg entsteigenden, quicklebendigen Magier einfach weggezaubert. Erik Satie hat dazu eine Musik geschrieben, die den Collagecharakter des Films aufnimmt, aber ansonsten betont eigenständig agiert. So gesehen, ist Martin Smolkas Neuvertonung von 2008, welche die Beschleunigung im zweiten Filmteil aufnimmt, deutlich weniger „modern“ - aber sein mit Kazoo und Ratschen durchsetztes Spiel mit Musette und Trauermarsch ist ein Spaß für die Ohren. Die „Visual Performance“, mit der Li Luran am Overheadprojektor schließlich Saties Ballettmusik zu „Parade“ einen Hauch der einstigen Provokation zurückgeben will, verharrt hingegen im Dekorativen: Der provokativ-anarchistische Effekt von einst ist heute noch bestaun-, nicht jedoch wiederbelebbar.

Die Arrangements von Saties Orchesterpartituren für das Ensemble Ascolta hat übrigens dessen Posaunist Andrew Digby geschaffen, und wie exzellent es dieser versteht, die Essenz des Komponierten herauszuarbeiten, beweist zum Abschluss im Nachtkonzert auch die Fassung von John Adams‘ „Short Ride in a Fast Machine“: Alles zuvor Massige und Flächige ist hier Kontur und Kante gewichen, drei Schlagzeuger meißeln den Rhythmus eines der motorischsten Stücke der Minimal Music heraus, und selbst brummende Motoren in nächtlichen Hotels können mit der Vitalität dieser Klänge einfach nicht mithalten.