Vom Theaterbesucher zum Stiefmutter-Mörder: Das Festival „Schöne Aussicht“ ist erfolgreich zu Ende gegangen – mit tollen Experimenten, aber auch traditionelleren Stücken für Kinder und Jugendliche.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Stuttgart - Es könnte durchaus sein, dass sich die Schauspieler verspätet haben. Dass sie im Stau stecken und zu spät zur Vorstellung im Jungen Ensemble Stuttgart kommen. Da stehen die beiden italienischen Bühnentechniker also und versuchen radebrechend das Publikum zu vertrösten. Am liebsten würden sie den gut gefüllten Saal einfach wieder heimschicken.

 

Aber das ist das Spiel im Spiel in „Biancaneve“ des italienischen Theaters La Baracca – Testoni Ragazzi. Die beiden Schauspieler, starke, haarige Kerle, die man sich auch gut auf Motorrädern vorstellen könnte, wollen ausgerechnet „Schneewittchen“ spielen. Aber wie soll man mit Dreitagebart und kräftigen Händen das schönste Mädchen im Lande darstellen? Oder wie erschießt man auf der Bühne einen Frischling und entnimmt ihm die Eingeweide? Es ist alles nur eine Frage der Behauptung, den Rest regelt die Fantasie. Das haben Bruno Cappagli und Fabio Galanti bestens bewiesen mit ihrem Gastspiel beim Theaterfestival „Schöne Aussicht“. Denn die – vermeintlichen Bühnentechniker spielen das Märchen auf ihre Weise vor: Eine Lampe wird zum Apfel, ein Besen zum vergifteten Kamm. Die ausgerissenen Innereien werden mit einem Metermaß dargestellt. Die Männer markieren mit Klebeband das Haus der sieben Zwerge und mit Klarsichtfolie den gläsernen Sarg. Dieses wilde, wüste, wirre „Biancaneve“ ist doppelbödiges Theater, das mehr will, als nur ein Märchen nachzuerzählen.

Am Wochenende ist das Internationale Kinder- und Jugendtheaterfestival zu Ende gegangen – und die Veranstalter können mehr als zufrieden sein. Mehr als sechstausend Zuschauer kamen in dieser starken Woche ins Jes, ins Nord, die Rampe, sie feierten und diskutierten oder wurden selbst zum Opfer, das umgebracht werden soll, zum Mädchen, das seine Stiefmutter töten will – zu Schneewittchen.

Radikale Experimente für die Allerkleinsten

Denn das Schweizer Künstlerduo Trickster hat sich ebenfalls „Schneewittchen“ vorgenommen, schickt den Besucher aber allein mit einem Kopfhörer durch eine Installation. Man geht durch zahllose Kämmerchen, hier ist ein weißer Raum mit Kronleuchter, der Luxus und Hochherrschaftlichkeit ahnen lässt. Dort ist ein Zimmer – gepolstert wie eine Gummizelle. Es folgen hölzerne Kammern mit Torf und surrenden Fliegen. Es ist, als werde man selbst zu dem Mädchen, das der Jäger erschießen soll und das nun einsam durch den Wald irrt.

„Sie hat keinen Frieden. Von Neid zerfressen“ sagt eine Stimme. Doch meistens hört man es nur knacken und knarren. Hier liegt ein toter Vogel am Boden, dort hört man Hundegebell. Trickster erzeugt Atmosphäre, arbeitet mit Gerüchen, Tönen, Lichtstimmungen, um ungute Erinnerungen und Assoziationen zu wecken. Es wird nichts nacherzählt, sondern erlebbar gemacht, was Schneewittchen widerfährt. Mit gutem Grund ist dieses gruselige „Schneewittchen“ erst ab vierzehn Jahren zugelassen. Deutlich fröhlicher geht es da bei den Kleinsten zu. Es ist eine Freude, zu sehen, wie Zweijährige wach und begeistert auf ein Theater reagieren, mit dem ihre Eltern vermutlich wenig anfangen könnten: Denn „Schaapwel“ der belgischen Truppe Nat Gras ist ein Stück ohne durcherzählte Geschichte. Es wird nicht gesprochen, stattdessen gibt es tänzerische Einlagen, oder es werden aufgeschlagene Bücher herumgezeigt. Übertragen aufs Erwachsenentheater wäre das eine radikale und experimentelle Produktion, mit der sich die meisten Zuschauer jedoch vermutlich schwertäten.

Aber „Schaapwel“, – zu deutsch „Schlaf gut“, ist ein schönes, interaktives Tanztheaterprojekt über die Rituale im kindlichen Alltag, übers Aufräumen, Essen, Waschen und Ins-Bett-Gehen. Die Momentaufnahmen werden von Mano Amaro und Jan Martens tänzerisch dargestellt, sie machen allerhand Blödsinn mit dem nassen Waschlappen, hüpfen rhythmisch ums Handtuch herum, sie zaubern Wellen auf riesige Bettlaken und schlüpfen in einer ausgeklügelten Choreografie in ihre Schlafanzüge.

Den Kindern gefällt es – und später dürfen sie die zahllosen Spielstationen benutzen und fühlen, riechen, anfassen. Da kann mit Seifenschaum gemalt werden, man kann Seifenstücke rutschen lassen und Seifenblasen machen und dabei die Sinne für alltägliche Verrichtungen schärfen.

Das Jugendtheater erobert die Lebenswelt des Internet

Das Theater für die Allerkleinsten ist eine interessante Experimentierbühne, das Theater für Jugendliche wirkt dagegen traditioneller, weil es sich doch stark am Lebensalltag seiner Zuschauer orientiert. Das Kolibri-Theater aus Budapest hat sich die Welt vorgenommen, in der die meisten Jugendlichen heute zu Hause sind: das Internet. Es ist eine bitterböse Geschichte, die in „Cyber Cyrano“ erzählt wird. Die Hauptakteurin ist Zsuzsi, deren Seele so in Unordnung ist wie ihr Zimmer. Heni kommt neu in ihre Klasse – und alles ist anders. Alle schwärmen für Heni, auch Zsuzsis Jugendfreund Maté. „Früher war er wenigstens gemein zu mir.“

Zsuzsi verkuppelt die beiden mit anderen im Internet, und prompt verlieben sich Heni und Maté in virtuelle Figuren im Netz. Sie geben ihre intimsten Gedanken preis – dabei ist es doch immer nur Zsuzsi, mit der sie da nichtsahnend chatten. Zsuzsi inszeniert, intrigiert und manipuliert. „Ich habe einen Weg gefunden, Maté glücklich oder unglücklich zu machen“, sagt sie. Es ist, als hätte sie ihm „einen Mikrochip in seinen Kopf implantiert“.

Eine harte Story, welche die Ungarn erzählen – und dabei versuchen, den Theaterraum aufzubrechen. Auf der Rückwand werden Bilder aus dem Netz gezeigt, ganze Textpassagen werden wie beim Chat getippt, aber auch gefilmte Szenen aus dem Klassenzimmer projiziert. So erobert sich das Theater diese neue Lebenswelt und sucht nach ästhetischen Antworten auf das virtuelle Internet.

Die Folgen aber, das macht „Cyber Cyrano“ unmissverständlich klar, sind trotzdem sehr real. Als Henis virtueller Lover stirbt, bricht alles zusammen für sie. Zsuzsi muss die Schule verlassen. Trotzdem, sagt sie, „es war aufschlussreich und amüsant, was für idiotisch sentimentale Geheimnisse ihr hattet. Wie lächerlich ihr beide doch seid.“