Bestimmte arabische Großfamilien sind laut Polizei in kriminelle Strukturen verwickelt. Ermittler tun sich schwer, weil wie bei der Mafia eine Art Schweigepflicht herrscht. Nun gab es in Berlin doch „umfangreiche Zeugenaussagen“.

Berlin - Der Morgen ist noch nicht einmal angebrochen, aber in der Schinkestraße im harten Norden Neuköllns ist die Nacht für manche vorbei. In den Fenstern gehen die Lichter an, neugierig schauen die Bewohner, was draußen vor sich geht. Dicht aneinander stehen mehrere Polizeibusse vor einem grauen Mehrfamilienhaus aus den 80ern, SEK-Männer mit Sturmhaube spurten durch die graffitibeschmierte Glastür ins Haus, dazu Fahnder mit Drogenhunden. Drinnen erhellen Lichtkegel von Taschenlampen Wohnungen, schemenhaft bewegen sich Schatten, auf einem Balkon begutachtet ein Polizist sogar kurz einen Wäscheständer. Aber vanillegelbe Babystrampler sind an diesem Morgen nicht im Visier.

 

In einem der größten Einsätze seit Jahren durchsuchen seit 4.30 Uhr mehr als 220 Polizisten 18 Wohnungen, Gaststätten und Firmenräume in Neukölln sowie am nördlichen und südlichen Stadtrand.

60 SEK-Leute unterstützen die Schutzpolizisten, denn hier geht es um schweres Kaliber – und dass einer schießt, können die Beamten nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre nicht ausschließen. 2003 ist ein Berliner SEK-Mann bei einer versuchten Festnahme getötet worden.

Ermittler kämpfen seit Jahren gegen mafiöse Strukturen

Der Einsatz am Dienstagmorgen richtet sich gegen mutmaßlich kriminelle Mitglieder einer der berüchtigten arabischen Großfamilien in der Hauptstadt – die Familie Al-Z.. Natürlich betont der Polizeisprecher, dass gegen Einzelpersonen ermittelt werde, nicht gegen Familien. Aber die Ermittler kämpfen seit Jahren, und oft wie Don Quichotte vergeblich, gegen mafiöse Strukturen innerhalb großer, gegen die Außenwelt abgeschotteter Familienverbände.

Heinz Buschkowsky, lange Jahre Bürgermeister des Bezirks Neukölln und für seine klare Sprache bekannt, sagt es in einem Interview mit N24 so: „Diese Familien wollen sich nicht integrieren. Sie haben sich hier niedergelassen und machen ihre Geschäfte, das sind Teile der organisierten Kriminalität.“

Acht Männer werden festgenommen

Die jüngste Aktion könnte ein Erfolg werden. Acht Männer im Alter zwischen 20 und 56 Jahren werden festgenommen, gegen alle besteht ein Haftbefehl. Der Sprecher der Polizei, Stefan Redlich, erklärt direkt vor dem durchsuchten Haus, was den Verdächtigen vorgeworfen wird: Anstiftung zu einem versuchten, aber nicht vollendeten Auftragsmord, illegaler Waffenbesitz und vor allem die Beteiligung an einem spektakulären Raubüberfall auf die Schmuckabteilung im KaDeWe Ende 2014. Bei dem versuchten Auftragsmord ging es nach Berichten mehrere Berliner Medien um Rache für eine Frauengeschichte - dem Opfer sei in die Beine geschossen worden.

In den Wohnungen wird eine Waffe beschlagnahmt, dazu Munition, Bargeld und Schmuck. Ein Abschleppwagen lädt einen nachtblauen Porsche 911 Cabrio auf - er stammt aus dem Besitz eines der Verhafteten und wird laut Polizei zur Vermögenssicherung beschlagnahmt. Mindestens einer der verhafteten Männer soll sich gegen die Polizisten gewehrt haben.

Mauer des Schweigens gefallen

Dieser Einsatz wurde möglich, weil etwas Seltenes passierte – es sei eine Mauer des Schweigens gefallen, sagt der Innensenator Frank Henkel (CDU). Es gibt, und das ist für dieses Milieu höchst ungewöhnlich, „umfangreiche Zeugenaussagen“ und Hinweise aus dem Umfeld des Clans zu dem Raubüberfall auf das KadeWe. Wenige Tage vor Weihnachten 2014 stürmten fünf maskierte und mit Macheten und Äxten bewaffnete Männer ins Erdgeschoss des Kaufhauses, versprühten Reizgas, zerschlugen die Auslagenvitrinen der Schmuckabteilung und rafften Rolex-Uhren und Chopard-Schmuck im Wert von mehr als 800 000 Euro. Im Frühjahr 2015 nahm die Polizei drei Männer fest. Seit November stehen sie vor Gericht – alle drei sind vorbestraft, zwei hören auf den Nachnamen Al-Z., ein dritter ist ein Cousin der beiden. Verhandelt wird, genau wie bei dem Überfall auf das Pokerturnier vor einigen Jahren am Potsdamer Platz, hier nur der Raub.

Es ist nicht zu erwarten, dass die mafiösen Strukturen, die die Ermittler bei Clans sehen, in dem Verfahren erhellt werden. Und doch ist bei diesem Prozess etwas anders als sonst, denn der Cousin, der nur beschuldigt wird, das Fluchtauto gestellt zu haben, gab vor Gericht eine Erklärung ab, in der er beteuerte, sein Wissen offenbaren zu wollen und einen neuen Weg einzuschlagen – ohne Kriminalität und ohne Rücksicht auf „den Ehrenkodex“.

Arabische Clans beherrschen die Unterwelt

Das ist ein Verstoß gegen die ehernen Schweigegesetze, die in dem Milieu gelten und Ermittlungen extrem aufwendig machen. Die arabischen Clans mit tausend Angehörigen, so sagt ein Ermittler, beherrschten zwar nicht die Stadt, aber ihre Unterwelt. „Zeugen werden ganz schnell mundtot gemacht, mit Gewalt, mit Bedrohungen. Wenn heute acht Leute verhaftet worden sind, heißt das noch lange nicht, dass es auch zu acht Verurteilungen kommt“, sagt Buschkowsky dem Sender n-tv. Er spricht von sieben arabischen Clans in Neukölln mit eigenen Netzwerken, die untereinander Revierkämpfe führten.

Auf ein neues Problem wies am Wochenende der Oberstaatsanwalt Sjors Kamstra in der „Welt am Sonntag“ hin: Offenbar haben die Clans Flüchtlinge im Visier, die sie für die Drecksarbeit der Kleinkriminalität anwerben. „Die Flüchtlinge kommen hierher und haben kein Geld“, so Kamstra. „Und ihnen wird gezeigt, wie man ungelernt sehr schnell an Geld kommen kann.” Ihnen werde gesagt, dass es ihnen in einem deutschen Gefängnis besser gehe als im Krieg.

Opfer und Zeugen werden eingeschüchtert

Eine Studie, die der Justizsenator Thomas Heilmann (CDU) vor einiger Zeit zum Thema Paralleljustiz vorgestellt hat, kommt zu teils erschreckenden Ergebnissen: „In Teilen der Stadt herrscht, insbesondere in bestimmten ethnisch-kulturell geprägten Communitys ein Klima der Angst, ausgelöst durch gewalttätige, von staatlichen Behörden nur noch unzureichend kontrollierte Clanmilieus“, so die Wissenschaftler. Betroffen seien Teile von Neukölln, der Wedding, Moabit, aber auch Kreuzberg und Charlottenburg. Das Problem scheine sich gegenwärtig auszuweiten. Opfer und Zeugen von Straftaten werden mit Hinweis auf die Familienehre massiv eingeschüchtert oder vom Kontakt mit Behörden abgehalten. Streitigkeiten zwischen unterschiedlichen Clans würden intern geregelt. Anzeigen werden zurückgezogen, Zeugen schweigen oder erinnern sich an nichts. Die Wissenschaftler interviewten dafür 93 Personen, darunter Clanführer, Imame, Experten aus Justiz, Polizei und Verwaltung.

Der Name Al-Z. ist in Berlin nicht nur Ermittlern bekannt – der einstige Clanchef Mahmoud Al-Z., der sich selbst gerne als Pate oder Präsident bezeichnete, war über Jahre regelmäßig in den Boulevardzeitungen abgebildet und gab auch gerne Interviews. Vor acht Jahren wurde er wegen Drogenhandels zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Inzwischen soll er nicht mehr in Berlin leben.

Viele Einwanderer blieben im Land – ohne Arbeitserlaubnis

Im Zusammenhang mit der Kriminalität arabisch-libanesischer Großfamilien stößt die Polizei immer wieder auf die sogenannten Mhallamiye-Kurden aus der südöstlichen Türkei, deren Stämme seit Jahrzehnten im Libanon lebten und dort ausgegrenzt wurden. Anfang der 80er Jahre setzte eine Fluchtbewegung nach Europa ein. Zwar wurden Asylanträge abgelehnt, aber wegen fehlender Papiere und der Flüchtlingskonvention blieben viele Einwanderer im Land – ohne Arbeitserlaubnis, was wohl den Weg in die Kriminalität mit ebnete. In Deutschland leben die meisten in Berlin und Bremen. In der Hauptstadt beschäftigte sich eine Sonderkommission über Jahre damit, falsche Identitäten aufzudecken und recherchierte so auch die familiären Strukturen und Verbindungen. Im Landeskriminalamt gibt man sich derzeit zugeknöpft zu der Frage, in wie vielen Fällen ermittelt wird. Auch die Kriminalstatistik gibt keinen konkreten Einblick, welche Taten Mitgliedern von Clans zugeordnet werden – aber sie finden sich bei Raub, Drogenhandel, Schutzgelderpressung, Zuhälterei. Auch die Politik hat das Thema gerade wiederentdeckt: Zu Beginn des aufkeimenden Landtagswahlkampfs hat der rot-schwarze Senat jüngst angekündigt, bis Ende des Monats ein neues Konzept für den Kampf gegen diese Form der Kriminalität vorzulegen.