Diese Kinogeschichte eines Sektengurus und seines Anhängers ist von der Biografie des Scientology-Gründers L. Ron Hubbard inspiriert. Allzu nah kommt sie den realen Vorbildern aber nicht.

Stuttgart - Die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs im Pazifik. Der hagere US-Matrose Freddie Quell (Joaquin Phoenix) ist allein und schaut mit angespannter Miene über die Reling. Auch später, als seine Kameraden am Strand herumtollen, hält er sich abseits, schlendert dann aber doch hinüber zu einer nackten und aus dem Sand herausmodellierten Frau, wühlt heftig in deren „Unterleib“ herum, geht dann ans Wasser und masturbiert.

 

Als die Nachricht vom Kriegsende auf seinem Schiff übers Radio verbreitet wird, geht er hinunter und lässt heimlich eine Flüssigkeit ab, die ihm zu seinen Räuschen verhilft. Freddie kommt in eine Reha-Klinik, der Rorschach-Test wird ihm vorgelegt, wie in den einschlägigen Witzen erkennt er in den Tintenflecken immer nur „Muschis“ und „Schwänze“. Bloß dass es dem Kerl mit dem leicht verrenkten Körper und dem freudlosen Lachen sehr Ernst ist.

Ein Mann irrlichtert durchs Leben

Diesen aggressiven, alkoholkranken, nervösen, derangierten und stets sprungbereiten Freddie lässt der Regisseur Paul Thomas Anderson („There will be Blood“) nun auf den Frieden los. Sein Film „The Master“ entwirft dabei zunächst das Gegenbild zu optimistischen Hollywood-Heimkehrerdramen wie William Wylers Klassiker „Die besten Jahre unseres Lebens“, zeigt Freddie als Fotografen, zeigt ihn auf der Flucht und als Wanderarbeiter, der zu einem alten Hobo sagt, er erinnere ihn an seinen Vater und ihn dann – aus Versehen oder mit Absicht? – mit gepanschtem Schnaps vergiftet. Vielleicht war der Krieg, so deutet Anderson an, nicht die einzige Ursache für Freddies prekär irrlichternde Existenz.

„Sie sind anormal!“

Aber ausgerechnet dieser Film, der sich nun mit dem Thema Psychologie beschäftigen wird, schafft sich quasi einen dunklen Raum, der sich den Deutungsversuchen dieser Disziplin immer wieder entzieht. Als Freddie am Kai eine beleuchtete Jacht sieht, schleicht er sich ein, stürzt sich in den Schlaf, wacht auf – und ist willkommen! Er sitzt nun dem pompös-selbstsicheren Lancaster Dodd (Philip Seymour Hoffman) gegenüber, dem titelgebenden Meister, der Freddie in einer intensiven Sitzung befragt, besser: der ihn verhört, eigentlich aber schon zu kennen scheint. „Sie sind anormal!“, sagt Dodd lächelnd zu seinem neu rekrutierten Schützling, so als würde er eine Auszeichnung verleihen.

Dass die Figur des Lancaster Dodd vom Scientology-Gründer L. Ron Hubbard inspiriert ist, war lange vor dem Start des Films bekannt, wer ihn nun sieht, ist deshalb trotz einiger direkter Anspielungen darüber erstaunt, dass „The Master“ weniger verkappte Hubbard-Biografie sein will denn freie Paraphrase über das Sekten(un)wesen in bürgerlichen Salons zur orientierungslosen Nachkriegszeit. Anderson zeigt einen extrem manipulativen und von seiner eigenen Rhetorik euphorisierten Mann und dessen fatale Beziehung zu seinem extrem labilen und gewalttätigen Anhänger, in der ein Vater-Sohn-Verhältnis aufscheint, in der aber auch Freundschaft, Saufkumpanei oder homosexuelle Gefühle mitschwingen, die freilich nie ganz zu fassen sind. Im Hintergrund jedoch regiert Peggy (Amy Adams), die wortkarg-strenge Frau des Masters, die darauf achtet, dass aus Sitzungen keine Orgien werden.

Zwei grandiose Schauspieler

Anderson inszeniert dieses Drama, für das Johnny Greenwood wieder einen fiebrig-experimentellen Soundtrack geliefert hat, nicht in gleichbleibendem Tempo, schon gar nicht im konventionellen „Und dann“-Erzählstil. Er hetzt manchmal mit wenigen Schnitten voran, vollführt abrupte und elliptische Orts- und Zeitwechsel, bremst sich aber immer wieder herunter und konzentriert sich auf lange, intensive, fast in Echtzeit ablaufende Sequenzen.

Wenn Dodd unter den bewundernden Blicken seiner Gemeinde Freddie zwischen einer Wand und einem Fenster hin- und herschickt, oder wenn Freddie in einer Gefängniszelle tobt, sind das Tour-de-Force-Auftritte zweier grandioser Schauspieler. Wobei man bei Joaquin Phoenix, dessen psychische Verfassung eine Zeit lang Rätsel aufgab, nur spekulieren kann, wie viel von seinem eigenen selbstzerstörerischen Potenzial er hier heraus lässt.

Nanu, das gab es doch schon einmal!

Aber! Jawohl, es muss in dieser Kritik, wenn auch sehr spät, ein „Aber“ auftauchen. Denn dieser Film, der sich so wunderbar seine Zeit aneignet, ist in seinen Teilen überzeugender als im Ganzen. Er findet zwar immer neue Varianten seiner Sinnsucher-Story, aber er findet kein Mittel, um sie wirklich zu einer stringenten Einheit zusammenzubinden.

Letztlich tritt auch dieser Film, dessen Hauptcharaktere keine Entwicklung durchmachen, selbst ein wenig auf der Stelle. In Richard Brooks’ Drama „Elmer Gantry“ (1960) ist Burt Lancaster als Sektenprediger ein Scharlatan, der sich läutert; in „The Master“ aber scheint Lancaster (!) Dodd bis zum Schluss selber an das zu glauben, was er erzählt. Doch es bleibt ein Rest von Zweifel. Denn Anderson gibt seinen Helden zwar viel Raum , fasst ihre Persönlichkeiten jedoch nie zusammen: Freddie Quell und Dodd Lancaster bleiben uns auf faszinierende Weise fremd.

The MasterUSA, 2012. Regie: Paul Thomas Anderson. Mit Joaquin Phoenix, Philip Seymour Hoffman, Amy Adams. 137 Minuten. Ab 12 Jahren. OmU Delphi