Beim Festival am Lido geht es zur Sache: Filme von Ana Lily Amirpour und Mel Gibson geizen nicht mit drastischen Darstellungen. Doch insgesamt bleibt der Wettbewerb eher blass – mit einer Ausnahme.

Venedig - Man muss mit einem guten Magen gesegnet sein, um so manchen Wettbewerbsfilm am Lido durchzustehen. Dass im Kino Blut fließt, schön und gut. Aber die Kuratoren des Festivals in Venedig haben in diesem Jahr offensichtlich härtere Kriterien angelegt: Gehirnmasse spritzt, Gedärme treten hervor, Schusswunden klaffen. In Ana Lily Amirpours „Bad Batch“ etwa greifen Ausgestoßene aus der amerikanischen Gesellschaft kurzerhand zur Säge, um Schicksalsgenossen Arme und Beine abzutrennen, die anschließend auf dem Grill landen.

 

Die in England geborene, in den USA aufgewachsene junge Regisseurin ist vor zwei Jahren mit „A Girl Walks Home Alone At Night“ aufgefallen, einer im Iran spielenden Vampirgeschichte, in der ein Racheengel notorische Lüstlinge bestraft. Solch eine starke Frauenfigur steht auch im Mittelpunkt von „The Bad Batch“, selbst wenn Arlen (Suki Waterhouse) zunächst in die Gewalt der Kannibalen gerät. Mit amputierten Gliedmaßen wird sie zur Aussätzigen unter Aussätzigen, die einen umso klareren Blick auf die verkommene Welt um sie herum wirft.

Gottes verquere Fürsprecher

„The Bad Batch“ will sich zur Anklage Amerikas als sich selbst zerfleischendes Land aufschwingen, doch greift der Film beständig zu so drastischen Effekten und plakativen Symbolen, dass man bald ermattet aufgibt. Das zerstörte Puzzle eines Star Spangled Banner im Wüstenstaub spricht wahrlich eine deutliche Sprache.

Amirpours Gewaltorgie war bei Weitem nicht die einzige Abrechnung mit Gottes eigenem Land. Dass der Allmächtige mitunter reichlich verquere Fürsprecher auf Erden besitzt, führte Martin Koolhoven in seinem blutigen Western „Brimstone“ vor, in dem Guy Pearce einen sadistischen Reverend spielt. Und ein Historiengemälde legte auch Mel Gibson vor, der die Schlacht der Amerikaner am japanischen „Hacksaw Ridge“ für ein gewaltiges, brutal deutliches und erschütterndes Anti-Kriegs-Plädoyer nutzt. Man mag Gibson vorwerfen, dass er wie in „The Passion of Christ“ keine Grenzen bei der Gewaltdarstellung kennt, und doch erfüllt sie hier ihre Funktion, weil sich vorm allgegenwärtigen Töten die Hauptfigur umso mehr abhebt. Desmond Doss, gespielt von Andrew Garfield, meldet sich zum Dienst im Zweiten Weltkrieg und weigert sich gleichzeitig, eine Waffe in die Hand zu nehmen.

Zoten über das Zölibat

„Hacksaw Ridge“ lief in Venedig außer Konkurrenz, und das ergeht einem leider mit weiteren Filmen so, die allesamt über dem Niveau des diesjährigen Wettbewerbs bis dato liegen. Andrew Dominiks „One More Time With Feeling“ etwa ist ein grandios gefilmter Dokumentarfilm über Nick Cave, der gerade in den Studioarbeiten zum Album „Skeleton Tree“ steckt, aber auch ein psychologisches Meisterstück über das Trauma des Musikers, der seinen Sohn durch einen Unfall verlor.

Außer Konkurrenz lief am Lido schließlich auch Paolo Sorrentinos neue Arbeit – kein Kinofilm wie zuletzt „La Grande Bellezza“ und „Youth“, sondern eine Miniserie fürs Fernsehen, die Sky und HBO koproduzierten. An optischer Opulenz mangelt es „The Young Pope“, der Geschichte eines von Jude Law gespielten Papstes, kaum, da steht er dem barocken Katholizismus Roms in nichts nach und macht sich auch auf der Leinwand gut. Als Satire auf das Leben hinter den Mauern des Vatikans aber bleibt der Vierteiler seltsam flach und berechenbar. Intrigierende Kardinäle und Zoten übers Zölibat, wer hätte gedacht, dass sich dieser Regisseur mit solch wohlfeiler Kirchenkritik zufriedengibt?

Handgreifliche Aggression

Ein wirkliches Aha-Erlebnis hat dagegen schon am Sonntag der argentinische Wettbewerbsfilm „El Ciudadano Illustre“ („The Distinguished Citizen“) von Mariano Cohn und Gastón Duprat beschert. Mit wunderbar trockenem Humor erzählen die beiden die Geschichte des Literaturnobelpreisträgers Daniel Mantovani, der von den Dämonen der Vergangenheit eingeholt wird – in Gestalt der Bewohner des argentinischen Provinznests Salas, das der ehrgeizige Autor vor Jahrzehnten in Richtung Europa verlassen hat. Nun kann er der Einladung nicht widerstehen, die Ehrenbürgerwürde anzunehmen. Gerade noch hat er die Honoratioren mit einer provokativen Rede schockiert, da hockt er schon mit Reifenschaden im argentinischen Staub und muss mit seiner hochdekorierten Literatur ein Lagerfeuer entzünden.

Genius trifft auf Dorftrottel – das bliebe eine deftige Posse, würde sich der Film nicht Zug um Zug geradezu aufladen: mit dem Konflikt zwischen dem armen, aber ehrlichen Lateinamerika und dem reichen, aber unberechenbaren Europa, mit rhetorischer und handgreiflicher Aggression. Dass sich die ganze Geschichte am Ende als Mantovanis Fiktion entpuppen könnte, nimmt ihr zwar unnötig die Schärfe, änderte aber nichts daran, dass „Der Ehrenbürger“ in Venedig ein ums andere Mal mit Szenenapplaus belohnt wurde.