Festival-Gegensätze: Dresens Krebsdrama „Halt auf freier Strecke“, Kaurismäkis Schuhputzerfabel „Le Havre“ und Malicks Hymne aufs Universum.

Cannes - Das Wetter in Cannes: beständig, viel Sonne. Aber die Filme sind fürchterlich wechselhaft. Nie weiß man, ob man einen Schirm mitnehmen soll gegen jähe herzerweichende Leinwandgewitter. Andreas Dresens "Halt auf freier Strecke" erwischt den Betrachter, trotz aller Abwehrversuche, voll. Der Film lässt ihn zusehen, wie ein Krebskranker unaufhaltsam verfällt und ablebt - ein Anblick, peinvoll, kaum zu ertragen.

 

Aber für Dresen gibt es nichts verborgen Unzeigbares, egal ob Sex der Alten oder Sterben der Jungen, und in die schmerzliche, grausige Realität einer Daseinszerstörung dringt seine Kamera tiefer ein als jeder Dokumentarfilm. Wäre der Schnitt früher fertig geworden - den letzten nahm der Regisseur zwei Tage vor der Weltpremiere in Cannes vor -, dann wäre "Halt auf freier Strecke" nicht in die Nebenreihe "Un certain regard" gelangt, sondern eventuell in den Wettbewerb - und Milan Peschel, der grässlich Hinsiechende mit dem inoperablen Hirntumor, hätte zum Festivalschluss vielleicht gar die Darstellerpalme erhalten.

Wann hat ein Schauspieler je länger, jammervoller sich selber aufs Spiel setzen müssen, buchstäblich bis zur Abzehrung, zum physisch sichtbaren Verfall? Mehrere Wochen zieht sich sein Sterben in der Wirklichkeit hin, 110 Minuten dauert es im Film, den wir gern einen ausgezeichneten, auszuzeichnenden nennen, obschon es erlaubt sein muss, ihm auszuweichen. Dass heute schier alles verplappert und öffentlich "kommuniziert" wird, ist auch dem Regisseur bewusst - in einem surrealen TV-Showmoment lässt er den Tumor leibhaftig als Harald Schmidts Gesprächspartner figurieren, was auf die Problematik von Dresens Tun und Trachten rückverweist.

Bilderfluten bis ans Ende des Universums

Muss man ihn also sehen, den Film? Manche Leute fahren an jedem Unfallort abgewendeten Blickes vorbei, andere drosseln das Tempo, um mehr zu erhaschen. Sind sie empathischer? Die einen reden dauernd übers Kranksein, egal ob fremdes oder eigenes; andere reden darüber nie. Wer ist humaner? Die Frage stellt sich nicht. Sie ist unzulässig, vielleicht.

Nun ja, im Wettbewerb klart es auf . . . könnte man denken. Aber zuletzt zieht sich doch wieder ein Wetter zusammen. Terrence Malick, der notorisch scheue, berüchtigt langsame Amerikaner, stellt endlich den Film vor, dem die Festivalchefs schon seit Jahren entgegenjieperten, erst spitzte Venedig darauf, dann Berlin, aber fertig geworden war nichts außer einem Trailer und einem Plakat, darauf ein Babyfüßlein, geborgen von einer Männerfaust - und nun endlich in Cannes: ganz große Leinwand, chorische Sphärengesänge, Bilderfluten bis ans Ende des Universums, "Der Baum des Lebens", eingefangen von einer unnachahmlich geschmeidig tanzenden Kamera: ein Hymnus auf Himmel und Erde, aufs schöne ländliche Leben, als Jack, der Junge, samt der Familie im Texas der fünfziger Jahre, urplötzlich vertrieben wurde aus dem Paradies seiner Kindheit.

Mit familiärem Off-Gewisper fängt der Film an, saugend und sausend verleibt er sich den Kosmos ein, herrlichste unaufhörliche Naturwunderstrudel, bis Jack uns vor Augen kommt als ein Mann (Sean Penn) im gleißend-gläsern gestylten Skyscraper-Zentrum einer Moderne, die er verabscheut. Er, ein Vertriebener, dessen heile Welt im wiesengrünen Mittelwesten liegt, als Mutters Unterrock noch das Objekt seiner pubertären Begierde war und der Vater noch klarmachte, wo es langging im Leben (ansehnlich massig: Brad Pitt).

Es hagelt Buhs

Malicks Regie: grandios, betörend, ein einziger Zauber schaffender Rausch. Mit mindestens tausend Fotografiepreisen müsste man seinen Film überschütten. Nur setzt das antizivilisatorische Sentiment den falschen Akzent. Und so braut sich in Cannes eben doch noch ein Wetter zusammen: Es hagelt Buhs.

Ungerecht? Ja, der Film ist brillant. Und außer Aki Kaurismäkis kauzig lapidarer Erzählung vom alten Schuhputzer, der einem afrikanischen Jungen zur Flucht und allen braven Leuten in "Le Havre" zu einem guten Gewissen verhilft, wüssten wir vorerst keinen, der uns im Wettbewerb besser gefiel. So frugal und zugleich so herzerwärmend, so grau und in der Gräue so farbig wie Kaurismäki inszeniert solche Geschichten sonst niemand, höchstens vielleicht noch Jim Jarmusch.

Kaurismäkis gutmütig-gallige Lakonie rührt sehr an. Wenn man so will, ist sein Filmstil, für den er nur eine winzige Leinwand und ein paar stadtindianisch heruntergekommene Typen aus seiner finnischen Truppe benötigt, dem Stil des Terrence Malick genau entgegengesetzt. Auf Französisch gedreht, erreicht er die Sympathie des französischen Publikums damit freilich sofort. Und alle Wetterwolken sind wieder vertrieben.