Baltasar Kormákurs „Everest“ eröffnet in Venedig das Rennen um die Goldenen Löwen. Ein Drama mit Keira Kneightley und Jake Gyllenhaal über die Besteigung des höchsten Bergs der Welt.

Venedig - Stolze 65 000 Dollar berappen und dann an der Stiege über eine Gletscherspalte anstehen wie an der Kasse im Supermarkt? Da will der Texaner Beck Weathers umgehend sein Geld zurück, wenngleich der Wunsch dann doch mächtiger ist, den Mount Everest zu besteigen. Den touristischen Auftrieb am Dach der Welt beschrieb 1997 Jon Kracauer in seinem Buch „Into thin Air“. Dieser durchaus kritische Reisebericht über eine Gipfelexpedition, die im Jahr zuvor katastrophal aus dem Ruder lief, bildet die Grundlage für Baltasar Kormákurs Film, und der Reporter des „Outside“-Magazins Kracauer taucht in einer Nebenrolle auch selbst auf. In Venedig wurde „Everest“ nun die Ehre zuteil, die 72. Filmfestspiele zu eröffnen.

 

Der Auftakt am Lido gelang Festival-Direktor Alberto Barbera in den vergangenen beiden Jahren spektakulär. Alfonso Cuaróns Weltraumparabel „Gravity“ spiegelte in der dunklen Glocke des Alls zugleich die In-Utero-Fantasie einer Wiedergeburt – „Birdman“ von Alejandro Gonzales Iñárritu verschränkte im vergangenen Jahr eine Komödie über den Broadway mit der existenziellen Krise eines alternden Superstars. Beide Filme erwiesen sich als Publikumslieblinge und reüssierten beim Oscar, beiden gelang es, Blockbuster-Qualitäten mit intellektueller Schärfe und ästhetischem Erfindungsgeist zu verbinden, und nicht wenig strahlte der Glanz dieser Filme auf Venedig ab, denn hier hatten sie ihre Premiere gefeiert. Eine solche Entdeckung, zumal die dritte nacheinander, hätte man sich auch für „Everest“ gewünscht. Zu ihr kam es leider nicht.

Menschen schrumpfen zu winzigen Käfern im Eis

Zwar sucht der Isländer Kormákur allerorten die Überwältigungsgeste, den triumphalen Ton des Bergfilms, der die Kamera zum Fliegen bringt, Unwetter wie apokalyptische Gottesgerichte heranbrausen und die Menschen zu winzigen Käfern in Eis und Gestein schrumpfen lässt, sofern sie nicht beim Gipfelsturm über sich hinauswachsen und der Wille die Natur bezwingt. „Everest“ wurde zu einem großen Teil an Originalschauplätzen in Nepal und noch dazu in 3-D gedreht, und wenn Josh Brolin als Beck Weathers dann doch über besagte Stiege tapst, wird einem beim Blick in den Abgrund ganz anders.

An Geld und technischem Können mangelt es Kormákur also gewiss nicht, wohl aber an einer überzeugenden Idee, Kracauers Buch – das im Grunde eine Reportage als Großpanorama ist – dramaturgisch fürs Kino zu bearbeiten. Alles ist zwar irgendwie da: Kracauers Kritik an der kommerziellen Ausbeutung des Mount Everest, auf den Firmen mit solch bezeichnenden Namen wie „Mountain Madness“ oder „Adventure Consultants“ ganze Touristenherden bugsieren; die dennoch ungebrochene Faszination für den Himalaja, die nahezu religiöse Verklärung des Bergsteigersports. Und doch fehlt etwas Entscheidendes: Menschen aus Fleisch und Blut.

Keira Kneightley hat wieder einen erträglichen Auftritt

Zwar behauptet der Film, in dem „Adventure Consultant“ Rob (Jason Clarke) eine klar umrissene Hauptfigur zu besitzen. An seinem Beispiel spielt Kormákur die Frage der Verantwortung durch, lässt der Bergführer doch für den Everest seine hochschwangere Frau daheim zurück. Die Verabschiedungsszene indes ist von einem emotionalen Tiefgang, als wolle sich Rob ein paar schöne Tage als Wandervogel machen – auch wenn Keira Kneightley wieder einen ihrer schwer erträglichen Auftritte hat, bei denen es für ganz viel Schauspielerei eine Extragage zu geben scheint.

Gib dem Helden eine Frau, die im Wohnzimmer am Telefon weint, und schon stehen die moralischen Fronten fest – nach diesem Motto verfährt der Regisseur auch im Fall des Beck Weathers, dem Robin Wright mit der Scheidung droht, sollte er jemals wieder einen Berg besteigen. Warum er es dennoch tut, wird wie bei allen anderen Figuren in einer Fragerunde am nächtlichen Lagerfeuer stichwortartig abgehakt: Depressionen, weil der Everest so sehr lockt, weil man nach sechs Gipfeln nun auch auf den siebten will. Da sagt einer der Expeditionsteilnehmer ganz zu Recht, dass dies keine Antworten seien, und diesen Satz hätte er auch an den Regisseur Kormákur richten können.

Entdeckungen sind dieses Jahr woanders zu finden

So ist „Everest“ kein ganz schlechter Film, in Teilen ist er sogar leidlich spannend, auch wenn der Regisseur zum dramatischen Finale mit seinen Figuren die Übersicht verliert und hektisch zwischen Basislager und Gipfel hin- und herschaltet. Aber so recht will das alles nicht berühren, vor allem auch, weil jeder der Beteiligten aus freien Stücken sein Leben aufs Spiel setzt. Was das für das Festival bedeutet? Dass man die Entdeckungen in diesem Jahr woanders suchen muss, wozu allein schon der Wettbewerb mehr als genug Gelegenheit bietet: Cary Fukunaga etwa beschreibt in „Beasts of no Nation“ das Leben afrikanischer Kindersoldaten, und mit „Rabin, the last Day“ ist endlich der große Amos Gitai in der Hauptsektion vertreten, nachdem er bereits in den vergangenen Jahren zuverlässiger Gast in Nebenreihen war.

Im Fußball hätte man einen dreifachen Treffer nacheinander einen Hattrick genannt. Aber wir sind ja nicht beim Fußball.