François Cluzet aus „Ziemlich beste Freunde“ spielt den Dorfmediziner alter Schule, der selbst schwer erkrankt. Seiner Vertretung und Hilfe aus der Stadt misstraut er zunächst: ein Film über die Spannung zwischen Provinzgemächlichkeit und Hauptstadtarroganz also.

Stuttgart - Großstädter belächeln die kleingeistig eingepferchte Dorfbevölkerung ja gern mal mit kosmopolitischer Überlegenheit: Die da hinten in ihrer hermetischen Misthaufen- oder bestenfalls Kleinstadthölle, wie können die da eigentlich leben? Wo ist da der nächste Spätbus? Warum gibt es keine U-Bahn? Und wo soll man bitte anständig ausgehen?

 

Das fiktive Chaussy ist eines dieser Niemandsdörfer im französischen Hinterland. Mittwochs trifft man sich zum gemeinsamen Line-Dancing, den Bürgermeister kennt man beim Vornamen, die Eigenheiten der Nachbarn sind einem inzwischen so vertraut, dass sie fast schon zur eigenen Persönlichkeit gehören. Kurzum: Es ist nett in Chaussy. Mitten in dieser pittoresken Dorfkulisse betreibt der Allgemeinmediziner Jean-Pierre (François Cluzet aus „Ziemlich beste Freunde“) seine Praxis. Seit dreißig Jahren nennt man ihn in der Gemeinde wohlwollend „Herr Doktor“.

Liebeserklärung ans Kleine

Doch weit gefehlt. Obwohl die Geschichte zunächst ganz nach klassischer Clash-of-Cultures-Komödie klingt, konzipiert Regisseur Thomas Lilti seine Nathalie als Gegenentwurf zum besserwisserischen Stadtkind. Statt die zugegeben manchmal fragwürdigen Dynamiken des Dorfs zu belächeln, gibt sie sich ganz der neuen Aufgabe hin und entdeckt so nach und nach ihren Zauber. „Der Landarzt von Chaussy“ ist also keine skurrile Kleinstadtstudie, kein Film, der die Schrulligkeit seiner Figuren ausnutzt, um ein paar Lacher zu kassieren. Mitten auf vorhersehbaren erzählerischen Pfaden kreiert er eine so leise wie schöne Liebeserklärung ans Kleine, Eingestaubte, Verschrobene.

Denn die Dorfbewohner von Chaussy sind die Vergessenen. Die, die nicht in Paris leben und an der Seine wandeln können, wo sie wenigstens schön dramatisch aussehen, wenn ihnen etwas auf der Seele lastet. Die, die immer ein bisschen hinterher sind, was Outfit und weltmännische Smalltalk-Themen betrifft. Sie alle schließt „Der Landarzt von Chaussy“ ein. Ein, nicht aus. Auf diese Weise legt die Tragikomödie ihren Fokus auf ein gesellschaftliches Problem, ohne die vielerorts prekäre ärztliche Versorgung auf dem Land mit erhobenem Zeigefinger zu beklagen. Stattdessen zeichnet sie ein geradezu rührend positives Bild von all den Orten, an die niemand mehr gehen möchte.

Der Landarzt von Chaussy. Frankreich 2016. Regie: Thomas Lilti. Mit François Cluzet, Marianne Denicourt. 102 Minuten. Ohne Alterbeschränkung.