Man hält sich selbst ja gern für einzigartig. Denis Villeneuve erzählt in seinem neuen Film von einem Mann, dem das nicht mehr möglich ist. Der von seinem Leben gelangweilte Adam (Jake Gyllenhaal) trifft seinen Doppelgänger – der die scheinbar aufregendere Existenz führt. Das geht nicht gut aus.

Stuttgart - Was, wenn es mich irgendwo ein zweites Mal gäbe? Wäre dieses andere Leben schöner, interessanter? Für manche mag diese Frage eine hübsche Tagträumerei sein. Den Geschichtsprofessor Adam Bell (Jake Gyllenhaal) führt sie auf einen Horrortrip.

 

Wie ein Schlafwandler bewegt er sich durch die von gesichtslosen Hochhauskomplexen dominierte Stadtlandschaft Torontos. Die wenigen Menschen, denen er begegnet, benehmen sich wie bewusst platzierte Statisten ohne Eigenleben. Auch die Beziehung zu Mary (Mélanie Laurent) ist wortkarg und beschränkt sich auf gelegentlichen Sex.

Tagsüber versucht Adam, seine Studenten in die komplizierten Gedankenexperimente der Geschichtsphilosophie einzuführen. „Hegel behauptet, dass alles in der Geschichte zweimal geschieht, und Marx fügt hinzu, das erste Mal sei eine Tragödie, das zweite Mal eine Farce“, erklärt Adam und verweist damit unbewusst auf die kommenden Ereignisse, die seine eigene Existenz infrage stellen werden.

Zum Rollentausch gezwungen

Mit „Enemy“ gibt Denis Villeneuve (hier geht’s zu unserem Interview mit ihm) ein so spannendes wie verstörendes Filmrätsel auf. Das Leben eines tödlich gelangweilten Wissenschaftlers gerät durch die Begegnung mit seinem Doppelgänger aus der Spur. Doch dieser andere ist nicht einfach ein böses Alter Ego. Anthony Clair führt ein komplett eigenständiges Leben und gleicht Adam vielleicht nur zufällig bis aufs Haar.

In Adams Augen wirkt diese andere Existenz reizvoller als die eigene: Anthony arbeitet als Schauspieler unter einem Pseudonym und wohnt mit seiner schwangeren Frau Helen (Sarah Gadon) in einem geschmackvoll möblierten Apartment. Doch auch Anthony ist gelangweilt und auf der Suche nach erotischen Abenteuern. Er zwingt Adam zum Rollentausch.

David Lynch lässt grüßen

Villeneuves Adaption eines Romans von José Saramago nähert sich zwar schrittweise dem Geheimnis um Adams Identität an, verweigert sich jedoch einer eindeutigen Lesart. Sie bietet gleich mehrere Interpretationen, was es mit der unheimlichen Verbindung zwischen Adam und Anthony auf sich haben könnte, stellt sogar infrage, ob Adams Welt überhaupt in der Realität verankert ist.

In seiner albtraumhaften Atmosphäre und der verschlungenen Konstruktion erinnert „Enemy“ an Filme von David Lynch, der in „Lost Highway“ (1997) oder „Mulholland Drive“ (2001) ähnlich komplexe Doppelgänger-Geschichten erzählte. Wie Lynch lässt Villeneuve das Publikum an der Desorientierung seiner Figuren teilhaben, schlägt kunstvolle Volten, erzeugt ein diffuses Unbehagen, scheint zunächst aber doch auf eine Lösung hinarbeiten zu wollen.

Auf die Details kommt es an

Während Lynch die Logik bald zum Teufel schickt und lustvoll mit den Ängsten und Erwartungen des Publikums jongliert, entwirft Villeneuve ein intellektuelles Vexierspiel. Es gilt, versteckte Hinweise und Anspielungen, winzige Details in den Bildern und Dialogen zu entschlüsseln und zu einem vermeintlich plausiblen Gesamtbild zusammenzusetzen.

Die alles entscheidende Frage, ob Adam wirklich er selbst ist, ob er als Anthony mit einem anderen Beruf und einer anderen Frau zur selben Zeit in einer Art Paralleluniversum existiert oder ob er schlicht schizophren ist, bleibt letztlich ein Mysterium. Dadurch wirkt „Enemy“ zwar oft kopflastig und undurchschaubar, aber auch faszinierend. Und bei aller Vertracktheit besitzt die Geschichte einen nachvollziehbaren Kern: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“

Enemy. Kanada, Spanien 2013. Regie: Denis Villeneuve. Mit Jake Gyllenhaal, Sarah Gadon, Mélanie Laurent, Isabella Rossellini. 90 Minuten. Ab 12 Jahren.