Es ist nicht leicht, sich in Zeiten von Massentierhaltung die Lust auf Fleisch zu erhalten. Wie ein neuer Vegetarismus entsteht.

Stuttgart - Schweine werden zu Dutzenden in Ställen zusammengepfercht, Rinder werden im Minutentakt von Bolzenschussgeräten getötet. Solche Bilder aus der Massentierhaltung haben Paul Letzgus dazu gebracht, nie wieder Tiere zu essen. Mehr noch: der Restaurantleiter hat entschieden, auch seinen Gästen keine Tiere mehr aufzutischen. "Bei uns wird nichts verarbeitet, was zwei Augen hat", sagt der 63-Jährige, während er die Schiefertafeln am Buffet zurechtrückt. Im Restaurant Iden in der Stuttgarter Innenstadt gibt es heute Vollkornnudeln, Kartoffelgratin mit Birnen, Grünkernbratlinge und panierte Selleriescheiben. Der Restaurantchef mit dem grauen Schnauzbart betrachtet nachdenklich das Buffet. Dann fragt er rhetorisch: "Was gibt uns das Recht zu töten?"

Letzgus könnte von einer Debatte profitieren, die der 33-jährige Autor Jonathan Safran Foer losgetreten hat. Sein Buch "Tiere essen" hat in den USA und nun auch hierzulande eine Diskussion ausgelöst. Foers These: die Menschen essen zu viel Fleisch. In den Feuilletons wurde sein Werk heiß diskutiert. Tiere zu essen sei purer Luxus, heißt es in der Zeit, ein "Gaumenkitzel, der einen blutigen Preis hat". Die FAZ schreibt, das Buch könnte die Kraft haben "die Welt zum Fleischverzicht zu bekehren". Das Geheimnis des Autors: Foer verzichtet in seinem Werk auf Dogmatismus. Im Kern stellt er zwei Regeln auf: Wer weiß, wie Massentierhaltung funktioniert, wird aus Gründen des Umweltschutzes und der Moral zum Vegetarier. Und wer nicht ganz verzichten mag, soll wenigstens den gedankenlosen Fleischverzehr einschränken - kein Fast-Food und kein Discounterfleisch.

Kreative Speisen ohne Fleisch sind in Mode


Foer und Letzgus folgen einem Trend, der in den vergangenen Jahren immer populärer geworden ist. Vor allem unter Besserverdienenden formiert sich Widerstand gegen die Fleischeslust. Promis wie Udo Lindenberg und Dirk Bach engagieren sich für die Tierschutzorganisation Peta, unterschreiben Petitionen für strengere Vorschriften bei der Massentierhaltung. Auch die Gastronomie richtet sich neu aus. Beim Gaststättenverband Dehoga heißt es, dass sich Szenelokale in den vergangenen Jahren immer häufiger für vegetarische Rezepte interessieren, kreative Speisen ohne Fleisch sind in Mode. "Da hat es einen Wandel gegeben", sagt eine Sprecherin.

Auf der andere Seite nimmt der Fleischkonsum weiter zu. Jeder Deutsche verzehrt pro Jahr etwa zwölf Kilogramm Rind und 39 Kilogramm Schweinefleisch. Das Schlachten nimmt kein Ende. 2009 ist die landesweite Fleischproduktion auf ein neues Rekordlevel gestiegen: Knapp vier Millionen Rinder wurden geschlachtet und etwa 56 Millionen Schweine. Wie 98 Prozent dieses Schlachtviehs aufgewachsen sind, beschreibt Foer detailliert. Es sind Rinder und Schweine, die dicht an dicht nebeneinander stehen und grüne Wiesen nur durch ein Fliegengitter betrachten, die kein Gras, sondern Kraftfutter und Antibiotika fressen. Es sind Hühner, denen für einen würzigeren Geschmack Brühe unter die Haut gespritzt wird. Weil die Deutschen billiges Fleisch wollen, macht nur die Massentierhaltung das Geschäft rentabel. Daher rüsten die Schlachthöfe auf. Ein Betreiber in Ulm wirbt für die "modernste Schweineschlachtlinie in Süddeutschland". Bis zu 25000 Schweine zerteilt die Anlage in der Woche. Alle zehn Sekunden wird ein Tier dort mit Kohlendioxid betäubt, mit einem Dorn angestochen, damit es ausblutet, und zersägt. In Wietze bei Hannover protestieren Tierschützer derzeit gegen den Bau eines Geflügelschlachthofs. Die geplante Schlachtfrequenz: mehr als 2,5 Millionen Hühner pro Woche.

Schlachtseminare für Laien


Wenn Paul Letzgus das hört, fühlt er sich bestätigt. "Diese Massenschlachterei ist eine Sauerei", sagt der Wirt. Er habe das Gefühl, dass viele Menschen das mittlerweile erkennen und auf fleischlose Speisen umsteigen. "Noch vor 25 Jahren galten wir als Körnerbude."Heute seien Fußballprofis, Schauspieler und Politiker seine Gäste.

Wer zwischen Fleischeslust und Tierliebe hin- und hergerissen ist, sucht oft einen Mittelweg - wie Florian Siepert. "Ich bin ein Typ, der gerne Wurst isst", sagt der Familienvater aus Hamburg. Doch Siepert will wissen, woher das Kotelett auf seinem Teller stammt. Im Januar hat der 33-Jährige daher zum ersten Mal ein "Porkcamp" veranstaltet, ein Schlachtseminar für Laien. Die Teilnehmer verfolgen von morgens an, wie das Schwein zur Wurst wird. Paarweise werden die Tiere hereingeführt, damit sie sich möglichst wohl fühlen. Der Schlachter nimmt sich Zeit, betäubt das Schwein mit einem Stromstoß. Es ist unangenehm, das Tier sterben zu sehen, sagt Siepert. "Doch das Schwein war die ganze Zeit über ruhig - in Industrieschlachthöfen sieht das ganz anders aus."

Schlachten muss kein barbarischer Akt sein


Nachdem das Schwein entborstet ist, stellen die Seminarteilnehmer selbst Bratwürste, Sülze und Schweinepastete her. Am Abend isst die Gruppe zusammen. Für Siepert ist die Schlachtung ein einschneidendes Erlebnis. Es sei der Respekt vor den Tieren, sagt er, den man schnell verliere, wenn das Fleisch abgepackt in den Regalen liegt. "Ich bin seither nicht mehr in der Lage, im Supermarkt Fleisch zu kaufen."

Ein anderer Teilnehmer berichtet: "Ich habe gesehen, wie ein Schwein getötet wird, damit wir sein Fleisch essen können. Das bleibt hängen. Was aber auch hängen bleibt: Dass das kein barbarischer Akt sein muss, wenn nicht industriell geschlachtet wird, wenn Tiere als Nutztiere, aber nicht als Rohmaterial behandelt werden." Auch im kommenden Jahr will Siepert ein Porkcamp anbieten, vor allem, um sich selbst daran zu erinnern, dass Tiere eine artgerechte Haltung verdient haben.

"Landwirte müssen dafür sorgen, dass sich Tiere wohlfühlen"


Der Landwirt Alexander Schäfer hat viele Kunden mit dieser Einstellung. Er betreibt einen Hof in Schörzingen. Er gönnt seinen Kühen ein glückliches Leben auf der Schwäbischen Alb, inmitten einer Landschaft wie auf einer Milchpackung, umgeben von Wiesen, Tälern und Tannen. Sie liegen im feuchten Gras, schmatzen, wedeln sich die Fliegen vom Fell, ab und zu klatscht ein Kuhfladen auf die Weide. Es ist still auf dem Grünstreifen des Oberhohenberges in 1000 Meter Höhe, nur die Grillen zirpen. "Jeder Landwirt muss dafür sorgen, dass sich das Tier wohlfühlt", sagt der 43-Jährige. Daher wird sein Vieh mit der Muttermilch großgezogen und ernährt sich ausschließlich von Wiesengras, die 160 Rinder bewegen sich auf einer Fläche von 340 Hektar. Für diese Tierhaltung trägt der familiäre Bauernbetrieb das Bio-Siegel.

Der Viehzüchter Schäfer ist von Stammkunden abhängig. Denn er beliefert nicht den Massenmarkt. Nur auf Bestellung bringt er eines seiner Tiere zu einer kleinen Schlachterei in Balingen und verkauft das Fleisch direkt an seine Kunden. Schäfer sagt: "Jedes Kilo Fleisch geht durch unsere Hände." Etwa alle zwei Wochen bietet er Schlachtgut an. Er nimmt in Kauf, dass seine Rinder nur halb so schnell heranwachsen wie in industriellen Betrieben mit Massentierhaltung. Um finanziell abgesichert zu sein, ist Schäfer auf Fördermittel angewiesen, außerdem verkauft er Futtergras. Sein Fleisch kostet knapp 30 Prozent mehr als im Discounter, ein Kilogramm Rostbraten etwa 27 Euro.

Immer mehr Verbraucher entscheiden sich für Mittelweg


Schäfer setzt auf Kunden wie Florian Siepert, die eine Art Teilzeitvegetarismus leben - und dafür mehr Geld investieren. Es ist dieser Mittelweg, den immer mehr Verbraucher einschlagen. Anstatt das Steak von der Stange zu kaufen, reduzieren sie den Fleischkonsum und setzen auf höhere Qualität. Viele Kunden seien bereit, dafür zu zahlen, sagt Schäfer. Unter seinen Abnehmern finden sich alle Einkommensklassen, vom LKW-Fahrer bis zum Chirurgen. Man schmecke, sagt Schäfer, dass die Rinder ein gutes Leben in der Natur verbracht haben. "Die Kunden honorieren das."

Paul Letzgus überzeugt das nicht. Er verzichtet ganz auf Fleisch, obwohl er vor zwölf Jahren selbst noch gerne Schnitzel aß. "Tiere töten ist unmoralisch", sagt er, "das ist mir mit zunehmendem Alter immer bewusster geworden". Zum Vegetarismus bekehren will Letzgus niemanden. Das habe keinen Sinn, sagt der Restaurantleiter. Jeder solle selbst entscheiden, ob täglich "ein Lappen Fleisch" auf dem Teller liegen muss. Auch viele seiner Gäste seien keine reinen Vegetarier, sagt der Restaurantchef. Unter der Woche essen sie viel Gemüse, Vollkornprodukte und Obst. Am Wochenende darf es dann auch mal eine Schweinshaxe oder ein Rostbraten sein. Dann aber von glücklichen Tieren.