Ungarn schickt Hunderte Flüchtlinge im Zug in Richtung Westen. Angesichts der Menschenströme versinkt Europas Politik im Chaos. Noch immer verschließen viele Staaten ihre Grenzen – das ist eine Schande, kommentiert Knut Krohn.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Stuttgart - In Europas Flüchtlingspolitik herrscht blankes Chaos. Jede Regierung macht, was sie will – oder was sie glaubt, angesichts des Zustroms von hilfesuchenden Menschen machen zu müssen. Dabei dominiert bei fast allen Aktionen der staatliche Egoismus. Frei nach dem Motto: das Problem meines Nachbarn ist nicht mein Problem. Ungarn liefert für diesen desolaten Zustand europäischer Politik im Moment das beste Beispiel. Auf der einen Seite wird in aller Eile ein Grenzzaun hochgezogen, um die Menschen mit demonstrativer Härte am Betreten des Landes zu hindern. Auf der anderen Seite kapitulieren die Behörden in Budapest angesichts der schieren Menge an Asylsuchenden und setzten sie einfach in Züge in Richtung Westen. Ungarn bricht nicht nur ziemlich alle Regeln europäischer Grenzpolitik sondern missachtet auch die Gebote der Menschlichkeit. Das ist eine Schande, doch wer will Budapest einen Vorwurf machen?

 

Frankreichs Außenminister Laurent Fabius hat Ungarn wegen des Grenzzauns hart kritisiert – lässt aber unerwähnt, dass in Calais zur gleichen Zeit ebenfalls mit Stacheldraht bewehrte Zäune aufgebaut worden sind. Dort patrouillieren martialisch ausgerüstete französische Polizisten Nacht für Nacht im gleißenden Scheinwerferlicht, um Flüchtlinge daran zu hindern durch den Kanaltunnel nach Großbritannien zu gelangen. Ganz zu schweigen von den unwürdigen Umständen, unter denen die Menschen am Stadtrand von Calais auf ihre Chance zur Weiterreise warten. Deutsche Politiker halten sich angesichts der fremdenfeindlichen Randale im eigenen Land zu Recht mit allzu harscher Kritik an der Behandlung der Flüchtlinge in anderen Staaten zurück.

Die Augen fest verschlossen

Die Mehrheit der Länder in Europa hat die Augen gegenüber einer Entwicklung verschlossen, die sich schon vor Jahren angedeutet hat. Die tausende Toten an den Küsten von Italien oder Spanien waren aus Sicht der Länder im Norden des Kontinents vor allem ein Problem der Verantwortlichen in Rom und Madrid. Viele Regierungen in der EU sperren sich heute noch mit einer Das-Boot-ist-voll-Mentalität gegen eine einheitliche Flüchtlingspolitik. Länder, die in den vergangenen Jahrzehnten nach dem Fall der Mauer beim Aufbau überdurchschnittlich von der EU profitiert haben müssen endlich erkennen, dass Solidarität keine Einbahnstraße ist.

Die menschenwürdige Aufnahme der Flüchtlinge ist nicht das Problem einzelner Staaten, es ist eine unglaubliche Herausforderung für ganz Europa. Angesichts des Lamentos aus manchen Hauptstädten lohnt es sich, eine Tatsache immer wieder ins Gedächtnis zu rufen: Leidtragende in dieser Situation sind nicht die reichen europäischen Staaten, Leidtragende sind die Flüchtlinge, die ihre Heimat verloren haben.